Tag & Nacht

Der zweieinhalbjährige Junge wird seit Juli 2023 in einem kleinen Ort in den französischen Alpen vermisst. Die Gendarmerie und die Polizei arbeiten seither unermüdlich, das Verschwinden des kleinen Jungen bleibt jedoch ein Rätsel.

Es ist einer der rätselhaftesten Fälle des Jahres 2023. Vor sechs Monaten, am Samstag, dem 8. Juli, gegen 17 Uhr, verschwand der zweieinhalbjährige Emile in Haut-Vernet in den Alpes-de-Haute-Provence. Trotz einer schnellen Meldung der Großeltern mütterlicherseits, bei denen das Kind in den Ferien war, und der geringen Größe dieses kleinen Dorfes mit nur 25 Einwohnern, der auf 1.200 m Höhe an einer kleinen Strasse liegt, führte bislang keine der verfolgten Spuren zum Erfolg. „Verstehen Sie unsere Not, sagen Sie uns, wo Emile ist“, flehten seine Eltern in einer Botschaft, die Ende November von der Wochenzeitung „Famille chrétienne“ verbreitet wurde. Am Weihnachtstag rief das katholische Ehepaar auf Facebook zum Gebet für ihren Sohn auf.

Die Suche und die Ermittlungen wurden seit den ersten Stunden des Verschwindens unermüdlich fortgesetzt und mischten traditionelle Methoden mit den modernsten Techniken der Gendarmerie. Der Junge verschwand kurz nach seinem Erwachen von der mittäglichen Siesta aus dem Garten des Ferienhauses, in dem die Familie seit 20 Jahren ihren Sommerurlaub verbringt. Seine Mutter, die älteste von zehn Geschwistern, war an diesem Tag mit ihrem Ehepartner in die Region Marseille gereist. Als die Großeltern zu einem Spaziergang aufbrechen wollten, konnten sie Emile nicht finden.

Die Gegend wurde unmittelbar nach dem Verschwinden des Jungen durchkämmt und überflogen.
Innerhalb einer Stunde trafen etwa 40 Gendarmen aus den umliegenden Gemeinden am Ort des Geschehens ein, darunter Mitglieder des Hochgebirgszug der Gendarmerie aus Jausiers und der Luftstaffel aus Digne-les-Bains. Ein Hubschrauber überfliegt das Gebiet bereits in der ersten Nacht. Die Zeit drängt. Wenn sich das Kind verirrt hat, beträgt die Überlebenschance in dieser zerklüfteten Umgebung, die tagsüber hohen und nachts kühlen Temperaturen ausgesetzt ist, für ein Kind dieses Alters nicht mehr als 48 Stunden.

Am nächsten Tag setzen drei Hubschrauber sowie Drohnen, die mit Wärmebildkameras ausgestattet sind, die Suche fort. Am Boden werden sie von Hunderten Freiwilligen, Wanderern, Jägern und Feuerwehrleuten unterstützt. Die Umgebung wird bis in die späten Abendstunden durchkämmt. Ein Dutzend Spürhunde der Gendarmerie, die auf die Suche nach vermissten oder flüchtigen Personen spezialisiert sind, werden ebenfalls eingesetzt. Die Hunde verlieren die Spur des Kindes auf Höhe des Waschhauses des Dorfes. Dort wollen zwei Zeugen Emile am Samstag, dem 8. Juli, gegen 17.15 Uhr gesehen haben, wie eine mit den Ermittlungen vertraute Quelle dem Fernsehsender France Télévisions berichtete.

Es wurden Ermittlungen eingeleitet und ein Zeugenaufruf mit einem Foto des kleinen Jungen und einer speziellen Telefonleitung gestartet. Trotz dieser beeindruckenden Maßnahmen blieb das Kind bis heute verschwunden. Zwei Tage nach seinem Verschwinden kündigte der Präfekt des Départements Alpes-de-Haute-Provence am Montagabend das Ende der „normalen“ Suche und den Beginn der „kriminalistischen Durchsuchungsaktionen“ an. Eine der „größten Suchaktionen, die je durchgeführt wurden“, ergänzt der Staatsanwalt von Digne-les-Bains, Rémy Avon, nach Abschluss der zweiten Suchphase. Die 30 Häuser des Weilers wurden systematisch durchsucht, die 25 Bewohner in der zum Vernehmungsraum umfunktionierten Bäckerei befragt und ihre Autos genauestens inspiziert. Die 1,8 km lange Straße, die Haut-Vernet mit dem Dorf Le Vernet verbindet, wurde ebenfalls durchkämmt. Alles ohne Erfolg.

Die Ermittlungen gehen nun in die Verlängerung. Nach einer letzten Erkundungsphase, die Ende Juli in einem Gebiet von 5 km rund um das Haus der Großeltern durchgeführt wurde, konzentrieren sich die Ermittlungen jetzt auf die bisher gesammelten Elemente. Die Zeugenaussagen, die DNA-Proben und die 1.600 Telefongespräche, die am Tag des Verschwindens in der Gegend registriert wurden, müssen analysiert werden, so der Richter Rémy Avon auf einer Pressekonferenz. Die gerichtlichen Ermittlungen wurden an zwei Untersuchungsrichter in Aix-en-Provence übertragen und Mitte August auf kriminelle Entführung und Freiheitsberaubung ausgeweitet. Zwar gab es keine Indizien, die darauf hindeuteten, aber diese Ausweitung bieten den Ermittlern mehr Möglichkeiten, wie z. B. die Verhaftung von Verdächtigen und deren Polizeigewahrsam.

Eine nationale Ermittlungszelle wurde eingerichtet und 25 Ermittler arbeiteten Vollzeit an dem Fall unter der Leitung der Ermittlungsabteilung in Marseille. Mithilfe der Software Anacrim, die die gesammelten Daten auswertet, verfolgen die Ermittler jeden noch so kleinen Hinweis. Im Zuge der Ermittlungen kehrten sie regelmäßig für Hausdurchsuchungen und neue Grabungen in das Dorf zurück. Mitte September konzentrierten sich die Ermittler auf ein Gewässer in Le Vernet, südlich des Dorfes Haut-Vernet. Taucher durchsuchten das Gewässer – ohne Ergebnis. Die Gendarmen untersuchten auch die Betonplatte eines Chalets, das sich oberhalb des Weilers befindet. Auch diese Überprüfungen verliefen ergebnislos, berichten Ermittlungsbeamte gegenüber dem Sender Franceinfo.

Alle Optionen werden weiterhin untersucht. Handelt es sich um einen Unfall? Mord oder Totschlag? Entführung? Mitte Oktober wird der Hof eines jungen Landwirts in Haut-Vernet inspiziert, auch diesmal wieder mithilfe von Drohnen und Spürhunden. Auch diese Aktion erweist sich als erfolglos.
Mitte November führten rund 50 Gendarmen in der Umgebung des Ortes sowie in sechs weiteren Departements eine groß angelegte Durchsuchungsaktion durch. Ziel: Die Inhalte von Computern und Mobiltelefonen sollen sichergestellt werden. Die Ermittler wissen nun, wer sich am 8. Juli 2023 in Haut-Vernet und Le Vernet aufhielt, einschließlich aller Urlauber. „Wir interessieren uns für alle diese Personen“, erklärte damals eine dem Fall nahestehende Quelle gegenüber Franceinfo. „Deshalb gab es auch Hausdurchsuchungen in anderen Departements“.

Für Bürgermeister François Balique ist es undenkbar, dass einer seiner Einwohner in das Verschwinden des kleinen Emile verwickelt ist. Es ist „sicherlich niemand aus dem Dorf, hier ist es wie in einer Familie, man kennt sich“, sagte er im Herbst gegenüber France Télévisions. Wird der Winter endlich Antworten in diesem Fall bringen, in dem sich Hypothesen, Gerüchte und Verdächtigungen aneinanderreihen? Sobald der Schnee geschmolzen ist, könnte der Hubschrauber der Gendarmerie, der das Gebiet nach dem Verschwinden des Jungen bereits abgesucht hatte, wieder über die Gegend fliegen. „In einem großen Teil der französischen Wälder fallen im Winter die Blätter, man hat weniger Vegetation, man sieht leichter durch“, sagt der Kommandant der Gendarmerie gegenüber France Télévisions. „Vielleicht wird es durch die bessere Sicht im Winter möglich sein, eine Tasche, ein Kleidungsstück zu finden und die Suche in eine neue Richtung zu lenken.“

In ihrer von der Zeitung „Famille chrétienne“ verbreiteten Nachricht sprechen die Eltern von Emile von „schrecklichen Ängsten“, die ihnen „das Herz zerreißen“. Da es bei den Ermittlungen keine nennenswerten Fortschritte gibt, fordern sie die möglichen Verantwortlichen auf, sich selbst zu melden: „Aus Mitleid, wenn er lebt, lassen Sie uns nicht ohne ihn leben, geben Sie ihn uns zurück! Aus Mitleid, wenn er tot ist, sagen Sie uns, wo er ist, geben Sie ihn uns zurück, lassen Sie uns nicht ohne ein Grab, um uns zu besinnen und zu trauern!“.


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