Tag & Nacht

Das Jahr 2022 war in Frankreich vor allem durch die Wiederwahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten der Republik und durch Parlamentswahlen mit noch nie dagewesenen Ergebnissen geprägt, und das alles vor dem Hintergrund einer hohen Inflation, die durch den Krieg in der Ukraine verursacht wurde. Außerdem wurde 2022 zum wärmsten Jahr, das jemals in Frankreich gemessen wurde.

Der Skandal um die Pflegeheime der Orpea-Gruppe

Das Jahr 2022 beginnt in Frankreich mit einem Skandal um die Misshandlung älterer Menschen. Am 26. Januar erschien Victor Castanets investigatives Buch „Les Fossoyeurs“ (Verlag Fayard). Die von dem Journalisten gesammelten Zeugenaussagen und Dokumente berichten insbesondere von Rationierungen von Lebensmitteln und Hygieneprodukten zum Nachteil der alten Menschen, die in den Einrichtungen der Orpea-Gruppe betreut werden, einem Konzern, der fast 1.200 Alters- und Pflegeheime in Europa und Lateinamerika betreibt.

Brigitte Bourguignon, Ministerin für Autonomie, kündigte noch am Tag der Veröffentlichung des Buches die Einleitung einer Untersuchung an. Die Nationalversammlung führte im Februar Anhörungen durch, unter anderem mit dem Vorstandsvorsitzenden der Orpea-Gruppe und dem Generaldirektor für Frankreich. Der Staat reichte schließlich am 26. März auf der Grundlage von Artikel 40 der Strafprozessordnung, der jede Behörde verpflichtet, ihr bekannte Straftaten zu melden, Klage ein und forderte außerdem die Rückzahlung zu viel gezahlter staatlicher Zuwendungen in Höhe von 55,8 Millionen Euro. Diese Summe wurde von Orpea lange Zeit bestritten, aber schließlich vollständig zurückgezahlt, wie der Konzern im November bekannt gab.

Es bleiben die noch immer laufenden Gerichtsverfahren. Es wurden mehr als fünfzig Klagen von Familien von Heimbewohnern eingereicht, aber auch Klagen wegen gewerkschaftlicher Diskriminierung, Behinderung des Gewerkschaftsrechts und Fälschung.

Krieg in der Ukraine und Kaufkraft sind zentrale Themen des Präsidentschaftswahlkampfs

Es waren mehr als vierzig Kandidaten, die für das höchste Staatsamt kandidieren wollten, aber am 4. März, nachdem sie ihre 500 Patenschaften bestätigt hatten, standen schließlich nur noch zwölf an der Startlinie: Nathalie Arthaud (Lutte ouvrière), Nicolas Dupont-Aignan (Debout la France), Anne Hidalgo (Parti socialiste), Yannick Jadot (Europe Écologie-Les Verts), Jean Lassalle (Résistons! ), Marine Le Pen (Rassemblement National), Emmanuel Macron (La République en marche), Jean-Luc Mélenchon (La France insoumise), Valérie Pécresse (Les Républicains), Philippe Poutou (Nouveau Parti anticapitaliste), Fabien Roussel (Parti communiste français) und Éric Zemmour (Reconquête!).

Der französische Präsidentschaftswahlkampf ist durch den Krieg in der Ukraine und durch neue Debatten über die Außenpolitik Frankreichs und insbesondere über seinen Platz in der NATO geprägt. Der Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron nutzte die Gelegenheit, die Karte eines Staatschefs zu spielen, der an der diplomatischen Front am Werk ist und eigentlich zu beschäftigt ist, um Wahlkampf zu machen. Er begnügte sich damit, einige Wochen vor dem ersten Wahlgang ein Ersatzprogramm vorzustellen und hielt nur eine einzige Kundgebung ab, nämlich am 2. April in der La Défense Arena in einem Pariser Vorort. Die Frage der Kaufkraft vor dem Hintergrund der Inflation war das andere große Thema, das die Franzosen und die Kandidaten bewegte. Die Umwelt und der Klimawandel haben hingegen Mühe, sich in den Debatten bemerkbar zu machen.

Chaotische Szenen im Stade de France

Am 28. Mai verließen viele Zuschauer schockiert das Stadion, nachdem es am Rande des Champions-League-Finales im Stade de France in der Nähe von Paris zu Zusammenstößen zwischen Fans und Sicherheitskräften gekommen war. Das für 21 Uhr angesetzte Spiel begann aufgrund von Zwischenfällen in der Umgebung des Stadions mit sechsunddreißigminütiger Verspätung. Einige Fans versuchten, über die Tore des Stadions zu klettern und so Zugang zu erzwingen. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen, bei denen die Sicherheitskräfte Tränengas einsetzten.

Die Bilder gingen um die Welt und zeichneten ein negatives Bild von Frankreich. Vor allem aber wecken sie, etwas mehr als ein Jahr vor den Olympischen Spielen 2024 in Paris, Zweifel an der Fähigkeit der französischen Behörden, große Sportveranstaltungen zu organisieren.

Nach einer mehrwöchigen Untersuchung legt der Senat im Juli einen Bericht vor. Senator Laurent Lafon, Vorsitzender des Kulturausschusses, spricht darin von einer „Verkettung von Funktionsstörungen“ und „Versäumnissen“ sowohl „bei der Durchführung“ als auch bei der „Vorbereitung“ der Veranstaltung.

Emmanuel Macron für fünf Jahre wiedergewählt

Emmanuel Macron wurde am 24. April zum Präsidenten der Republik wiedergewählt, indem er sich im zweiten Wahlgang wie schon 2017 gegen die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen durchsetzte (58,55% der Stimmen gegenüber 41,45% für seine Gegnerin).

In der ersten Runde am 10. April hatte sich der Großteil der Stimmen auf drei Kandidaten verteilt: Emmanuel Macron (27,85%), Marine Le Pen (23,15%) und Jean-Luc Mélenchon (21,95%). Der vierte Mann, Éric Zemmour, landete mit 7,07% der Stimmen weit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Alle anderen Kandidaten lagen unter der 5-Prozent-Hürde, die auch für die Erstattung der Wahlkampfkosten gilt, darunter die LR-Kandidatin Valérie Pécresse (4,78%), der EELV-Kandidat Yannick Jadot (4,63%) und die PS-Kandidatin Anne Hidalgo (1,74%).

Ein Zeichen für das grosse Unbehagen der Wähler: Im ersten Wahlgang enthielten sich 26,31% der Franzosen der Stimme, im zweiten Wahlgang waren es 28,01%.

Am 16. Mai ernannte Emmanuel Macron Élisabeth Borne zur neuen Premierministerin. Sie trat die Nachfolge von Jean Castex mit einer Regierung an, die von Kontinuität geprägt ist. Es bleiben zahlreiche Minister auf ihren Posten (Bruno Le Maire im Wirtschaftsressort, Gérald Darmanin im Innenressort, Eric Dupond-Moretti im Justizressort usw.).

Die Parlamentswahlen ergeben am Abend des zweiten Wahlgangs am 19. Juni eine noch nie dagewesene Verteilung in der Nationalversammlung mit einer der absoluten Mehrheit beraubten Präsidentenmehrheit (250 Abgeordnete), einer Rechtsextremen, die stärker ist als je zuvor (88 Abgeordnete), und einer Linken, die dank ihres Zusammenschlusses deutliche Fortschritte macht (150 Abgeordnete).

Der Parlamentswahlkampf bestätigt, was die Präsidentschaftswahlen gezeigt hatten: Emmanuel Macron wurde leidenschaftslos wiedergewählt und die Franzosen wollen ihm nicht die volle Macht geben. Das Interesse an diesen Wahlen wird insbesondere durch das historische Bündnis zwischen den verschiedenen linken Kräften getragen: Zum ersten Mal haben Kommunisten, Sozialisten und Umweltschützer im Rahmen der Neuen Volks-, Umwelt- und Sozialunion (Nupes) mit einem gemeinsamen Programm Wahlkampf gemacht. Ihre Hoffnungen, eine Koalition zu erzwingen, werden jedoch insbesondere durch die historischen Ergebnisse des Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen vereitelt, das mit 88 Abgeordneten zur größten Oppositionsfraktion wird – die Abgeordneten der Nupes sind zwar zahlenmäßig stärker, aber in vier Fraktionen aufgeteilt.

Anschläge vom 13. November: Salah Abdeslam zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt

Nach zehnmonatiger Verhandlung wurde Salah Abdeslam, der als einziges noch lebendes Mitglied der islamistischen Kommandos vom 13. November 2015 gilt, am 29. Juni vom Sondergericht für Schwurgerichte in Paris zu einer lebenslangen, nicht vorzeitig aussetzbaren Freiheitsstrafe verurteilt. Insgesamt werden 19 der 20 Angeklagten in allen gegen sie erhobenen Anklagepunkten für schuldig befunden.

Wärmstes Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen in Frankreich

Die Ankündigung erfolgte sehr früh. Bereits am 30. November konnten die Dienste von Météo-France bescheinigen, dass das Jahr 2022 den Hitzerekord von 2020 von damals 14,07 Grad Celsius brechen würde, mit einer Durchschnittstemperatur, die zwischen 14,2 und 14,6 Grad lag.

Schuld daran war vor allem ein außergewöhnlicher Sommer mit drei Hitzewellen (15. bis 19. Juni, 12. bis 25. Juli und 31. Juli bis 13. August), was einen Rekord von 33 Tagen bedeutete. Die Hitze wurde von zahlreichen Extremereignissen begleitet, wie einer „historischen Dürre“, Waldbränden – vor allem in der Gironde und in Regionen, die normalerweise wenig oder gar nicht für derartige Wetterphänomene anfällig sind, wie die Bretagne. Ausserdem registrierte man eine sehr hohe Wassertemperatur im Mittelmeerraum und heftige Gewitter – wie das, bei dem am 18. August auf Korsika fünf Menschen ums Leben kamen.

Die jährliche Niederschlagsmenge wies im Landesdurchschnitt ein Defizit von 15 bis 25% gegenüber dem Normalwert auf, mit zwei Rekordmonaten im Mai (Defizit 60%) und Juli (Defizit 85%). Mai und Juli 2022 waren die trockensten Monate seit Beginn der Messungen im Jahr 1959. Das trockenste Jahr in Frankreich bleibt aber dennoch 1989 mit einem Regendefizit von 25%.

Franzosen mit einer starken Inflation konfrontiert

Wie alle Volkswirtschaften der Welt ist auch Frankreich von den Folgen des Krieges in der Ukraine und den steigenden Energiepreisen betroffen. Im Juli 2022 erreichte die Inflation laut dem Statistikinstitut Insee 6,1% und damit den höchsten Stand seit 1985. Um den Franzosen bei der Bewältigung des Preisanstiegs zu helfen, verabschiedete die Regierung im Sommer ein Gesetz zur Förderung der Kaufkraft, dessen erster Teil Staatshilfen in Höhe von 20 Milliarden Euro umfasst.

Der Text sieht unter anderem eine Erhöhung der Renten, des Kindergeldes, der sozialen Mindestleistungen und der Aktivitätsprämie um 4% vor. Die Wohnbeihilfe wird um 3,5% angehoben. Die 2019 eingeführte „Macron-Prämie“, die Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern einmal im Jahr auszahlen können und die von den Sozialversicherungsbeiträgen befreit ist, wird durch die Wertteilungsprämie mit einer auf 3.000 Euro erhöhten Obergrenze ersetzt. Selbstständige profitieren von einer Senkung ihrer Sozialversicherungsbeiträge.

Ein weiteres Maßnahmenpaket in Höhe von 44 Milliarden Euro wurde gleich im Anschluss verabschiedet, um die Wiederverstaatlichung des Stromerzeugers EDF, die Fortsetzung des Preisdeckels für Energie und des Treibstoffrabatts an den Tankstellen sowie die Erhöhung des Indexpunktes für Beamtenbezüge um 3,5% zu finanzieren.

Zahlreiche Engpässe im öffentlichen Dienst

In Frankreich fehlten zu Beginn des Schuljahres im September nach den Sommerferien etwa 4.000 Lehrkräfte bei 850.000 offenen Stellen. Das Phänomen ist nicht neu, verschlimmert sich aber Jahr für Jahr. Den Gewerkschaften zufolge ein Zeichen für die mangelnde Attraktivität eines Berufs, der unter immer schwierigeren Bedingungen und mit immer niedrigeren Gehältern ausgeübt wird.

Die sinkende Attraktivität des öffentlichen Dienstes betrifft auch das Krankenhaus. Vor allem in den Notaufnahmen fehlt es an Pflegepersonal. Ende Mai waren nach einer Zählung der Vereinigung Samu-Urgences de France mindestens 120 Abteilungen gezwungen, ihre Tätigkeit einzuschränken. Auch die Psychiatrie ist mit über 1.000 unbesetzten Stellen betroffen. Und im Herbst macht sich der Mangel auch in den pädiatrischen Abteilungen bemerkbar, die aufgrund der Bronchiolitis-Epidemie vor der Überlastung stehen. Babys müssen in den Krankenhausfluren behandelt oder nach Hause geschickt werden.

Auch das Transportwesen befindet sich in einer Krise, da es zu wenige Bus-, Straßenbahn- und U-Bahn-Fahrer gibt. Die regionalen Gebietskörperschaften schätzen die Zahl der offenen Stellen auf fast 5.000.

Auch Kinderkrippen sind gezwungen, Personen einzustellen, die nicht für die Betreuung von Kleinkindern ausgebildet sind. Die Zahl von 10.000 unbesetzten Stellen wird in einem im Juli veröffentlichten Bericht der Nationalen Kasse für Familienbeihilfen (CNAF) genannt.

Streik in den Raffinerien führt zu Treibstoffknappheit

In diesem Umfeld traten die Beschäftigten der Raffinerien von TotalEnergies und ExxonMobil Ende September wegen Forderungen für Lohnerhöhungen in den Streik, was zu Treibstoffengpässen an Tankstellen in ganz Frankreich führte. Unter Hinweis auf die Rekordergebnisse von TotalEnergies im Jahr 2021 und die Erhöhung der Vergütung des Total-Chefs Patrick Pouyanné auf fast 6 Millionen Euro forderten die Streikenden eine Lohnerhöhung um 10%, die ihnen von der Unternehmensleitung verweigert wurde. Angesichts der Blockade der Raffinerien und der Treibstoffknappheit sah sich die Regierung gezwungen, einzugreifen, indem sie TotalEnergies zu Entgegenkommen aufforderte und anschließend streikende Arbeitnehmer zur Wiederaufnahme der Arbeit zwang.

Der Arbeitskampf endete am 2. November nachdem sich die Geschäftsleitung und die Gewerkschaften auf eine Lohnerhöhung zwischen 7% und 10% geeinigt haben.

In der Nationalversammlung wird der Paragraph 49.3 mit aller Macht eingesetzt

Nachdem das Gesetz zur Förderung der Kaufkraft dank der Unterstützung von Abgeordneten der Opposition verabschiedet werden konnte, gestalten sich die Debatten über den Entwurf des Haushaltsgesetzes 2023 und den Entwurf des Haushaltsgesetzes für die Sozialversicherung 2023 für das Präsidentenlager und seine relative Mehrheit komplizierter.

Premierministerin Élisabeth Borne aktiviert daher am 19. Oktober zum ersten Mal Artikel 49.3 der Verfassung, der es ihr ermöglicht, einen Text ohne Abstimmung in der Nationalversammlung zu verabschieden. Dieser Artikel kann nur einmal pro Parlamentsperiode angewendet werden, mit Ausnahme von Haushaltstexten, für die es keine Begrenzung gibt. Aufgrund des Hin und Hers zwischen der Nationalversammlung und dem Senat sowie der verschiedenen Teile der Gesetzesentwürfe (Ausgaben und Einnahmen) gab es zahlreiche Gelegenheiten. Die Regierungschefin hat in weniger als zwei Monaten insgesamt zehn mal die Karte des 49.3er eingesetzt – das letzte Mal wurde sie am 15. Dezember gezückt.

Anschlag in Nizza: Alle acht Angeklagten zu Haftstrafen zwischen zwei und achtzehn Jahren verurteilt

Nach mehr als drei Monaten Verhandlung verhängte das Pariser Sondergericht für Schwurgerichte am 13. Dezember Haftstrafen zwischen zwei und achtzehn Jahren gegen die acht Personen – sieben Männer und eine Frau -, die im Prozess um den Anschlag von Nizza angeklagt waren, bei dem am 14. Juli 2016 auf der Promenade des Anglais 86 Menschen ums Leben gekommen waren.

Die acht Angeklagten, bei denen es sich um Unterstützer des Fahrers des LKWs, der am Nationalfeiertag auf der Promenade des Anglais in Nizza in eine Menschenmenge gefahren war, handelte, wurden von den fünf Berufsrichtern schuldig gesprochen. Keiner der Angeklagten wurde allerdings beschuldigt, eine führende Rolle bei dem Anschlag gespielt zu haben.

Ein Jahresrückblick von France 24.


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