Tag & Nacht

Die Genealogie findet in Frankreich immer mehr Anhänger: Mehr als 10 Millionen Franzosen haben mit der Suche nach ihren Vorfahren begonnen. Die Digitalisierung vieler Archivdokumente hat die Suche erleichtert.

Bisher hat es so etwas noch nie gegeben. Rathäuser, Archive und mittlerweile auch Internetportale werden von neuen Fans belagert, die nach ihren Vorfahren suchen. Die Praxis ist sogar zu einer französischen Leidenschaft geworden, denn die Genealogie steht auf der Liste der Lieblingsbeschäftigungen der Franzosen an dritter Stelle, hinter den Hobbys Heimwerken und Gartenarbeit. Jean Legrand, Vizepräsident des französischen Genealogieverbands, wird von der Zeitung DDM zitiert: „Das ist ein Erfolg, der zweifellos das dringende Bedürfnis der Franzosen zeigt, sich mit ihren Wurzeln zu verbinden.“

Die Zahlen belegen es: Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Ifop, die dieses Jahr für die spezialisierte Website Geneanet durchgeführt wurde, geben sieben von zehn Franzosen an, sich für ihre Herkunft zu interessieren, und landesweit haben bereits mehr als 10 Millionen Menschen begonnen, die Geschichte ihrer Familie zu erforschen.

„Heute gibt es 40.000 Mitglieder in über 160 Vereinen“, erklärt Jean Legrand. „Einige Vereine arbeiten nur in bestimmten geografischen Gebieten. Andere führen umfangreiche Forschungen zu bestimmten Bevölkerungsgruppen durch, wie zum Beispiel zu bestimmten Berufen.“ Was das Profil der neuen Hobby-Genealogen betrifft: „Noch vor einigen Jahren waren 99% von ihnen Rentner. Wir haben jetzt jüngere Bevölkerungsgruppen – 40- oder 50-Jährige, die in das große Feld der Genealogie eintauchen.“

Bedürfnis nach „familiären Bezugspunkten“
Diese wachsende Begeisterung für die Genealogie wirft ein Licht auf unser heutiges Gesellschaftsmodell: „Vor 70 bis 80 Jahren gab es eine Zeit, in der die Familien im weitesten Sinne des Wortes – Brüder, Schwestern, Eltern, aber auch Onkel, Tanten und Cousins – relativ nahe beieinander lebten, zum Beispiel in einem Dorf“, kommentiert Jean Legrand. „Heute sind die Familien jedoch geografisch und in ihren Beziehungen zersplittert. Die Menschen leben in allen Ecken des Landes und sogar im Ausland. Dies begünstigt den Verlust familiärer Bezugspunkte und ich denke, dass unsere Gesellschaft heute darauf angewiesen ist, diese wiederzufinden.“

Vor fast drei Jahren wirkte die Covid-19-Pandemie wie ein Beschleuniger. Viele Franzosen nutzten die Zeit, um in der Vergangenheit zu stöbern: „Während der Pandemie mussten sich die Franzosen beschäftigen. Viele dachten, dass dies die Gelegenheit sei, ihren Stammbaum zu erforschen“. Aber wie kann man eine solch komplexe Forschung durchführen, wenn man zu Hause sitzt? Indem man sich auf die Digitalisierung öffentlicher Dokumente stützt. Im Jahr 2003 begann Frankreich mit dem großen Projekt der Digitalisierung von Verwaltungsquellen, allen voran die Zivilstandsregister. Das Ergebnis: Mehr als 95% aller Dokumente, die früher in staubigen Archiven aufbewahrt wurden, sind heute online verfügbar.

Mit nur wenigen Klicks kann man Vorfahren finden, die im 18. Jahrhundert gelebt haben. Aber: Nur etwa 2% der von Frankreich aufbewahrten Archive sind bis heute digitalisiert. Es gibt noch Millionen und Abermillionen von Dokumenten, die darauf warten, digitalisiert zu werden. Das lässt auf immer spannendere Entdeckungen in den kommenden Jahren hoffen.


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