Gérard Depardieu – für viele war er jahrzehntelang das Gesicht des französischen Films. Ein Schauspieler, der alles verkörperte: Kraft, Tiefe, Wucht, Wahnsinn. Doch der Glanz verblasst. Statt Applaus und Auszeichnungen stehen nun schwere Vorwürfe im Raum: sexuelle Übergriffe, Belästigung, sogar Vergewaltigung.
Am 24. und 25. März wird sich Depardieu vor Gericht verantworten müssen. Zwei Frauen, Technikerinnen am Filmset von Les Volets Verts im Jahr 2021, werfen ihm Übergriffe vor. Und sie sind nicht allein. Über zwanzig Frauen haben sich inzwischen gemeldet – mit ähnlichen Geschichten. Es geht um Gewalt, Grenzüberschreitungen, systematischen Machtmissbrauch.
Ein Schweigen, das laut war
In der Branche sorgt das für Aufruhr – und gleichzeitig für Schulterzucken. Denn viele sagen: „Jeder wusste es.“ Dass Depardieu sich unangemessen verhalte, war angeblich ein offenes Geheimnis. Doch niemand wollte wirklich hinschauen. Nicht damals. Und oft auch nicht heute. Denn es ist unbequem, sich einzugestehen, dass ein gefeiertes Genie vielleicht auch Täter war.
Noch immer erleben es Betroffene viel zu oft, dass ihnen nicht geglaubt wird. Dass man ihnen unterstellt, sie suchten Ruhm oder Geld – oder hätten es gar provoziert. Die Rollenverteilung ist dabei fast schon grotesk: Der übermächtige Star als Opfer, die Frauen als Verschwörerinnen. Absurder geht’s kaum.
‘Schwestern der Klage’ – wenn Leid verbindet
Die Journalistin Alizée Vincent hat für diese stille Solidarität einen Begriff geprägt: sœurs de plainte – Schwestern der Klage. Frauen, die durch dieselbe schmerzhafte Erfahrung miteinander verbunden sind. Sie helfen sich, geben einander Halt. Und oft ist es erst diese Verbindung, die ihnen die Kraft gibt, sich selbst als Opfer zu erkennen – und damit überhaupt Anzeige zu erstatten.
Denn was viele vergessen: Ein Täter vergreift sich selten nur einmal. Gewalt ist kein Ausrutscher, sondern ein Muster. Und wer das einmal erkannt hat, erkennt es oft wieder – in den Aussagen anderer, in der eigenen Erinnerung, im Schweigen dazwischen.
Justiz in Zahlen – eine ernüchternde Bilanz
Die Statistik ist erschütternd. Weniger als ein Prozent der Beschuldigten in Fällen von sexueller Gewalt werden tatsächlich verurteilt. Die meisten Verfahren verlaufen im Nichts. Mangels Beweisen, mangels Zeugen, mangels Glaubwürdigkeit – zumindest aus Sicht der Justiz.
Daher sind Aussagen weiterer Betroffener so wichtig. Sie können das Puzzle vervollständigen, ein klares Bild ergeben – und vor allem dafür sorgen, dass Betroffene gehört und ernst genommen werden.
Wer darf Opfer sein?
Alizée Vincent spricht auch über die Unterschiede im Zugang zur Gerechtigkeit. Frauen aus wohlhabenden, gebildeten Milieus – auch wenn sie nicht reich sind – haben oft mehr Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Wer weniger privilegiert ist, kämpft mit zusätzlichen Hürden. Und dann gibt es noch die Männer. Auch sie sind Opfer, doch der gesellschaftliche Umgang mit männlicher Verletzlichkeit ist nach wie vor ein Tabu. Scham, Angst vor Ausgrenzung und Homophobie verhindern oft, dass sie sprechen.
Ein Fall – viele Fragen
Der Fall Depardieu ist mehr als ein Prominentenprozess. Er ist ein Spiegel. Für eine Branche, die Macht und Missbrauch zu lange romantisiert hat. Für eine Gesellschaft, die Täter schützt und Opfer verdächtigt. Und für ein Rechtssystem, das viel zu oft versagt, wenn es um sexuelle Gewalt geht.
Wie viele haben geschwiegen, weil sie dachten, sie seien allein? Wie viele schweigen noch heute?
Auf dem Prüfstand: der Kult um Genies
Vielleicht wird es Zeit, den Begriff monstre sacré neu zu denken. Ist das Genie wirklich heilig, wenn es anderen Schaden zufügt? Und wie lange wollen wir noch übergriffiges Verhalten mit künstlerischer Exzentrik verwechseln?
Am Ende steht nicht nur Gérard Depardieu vor Gericht – sondern auch ein ganzes System. Eines, das sich entscheiden muss: Wegschauen oder hinsehen?
Die Frauen haben ihre Entscheidung bereits getroffen. Sie sprechen. Laut, klar – und gemeinsam.
Von C. Hatty
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