Tag & Nacht




Ein Schatten huscht durch die Pinien. Leise, schnell, kaum greifbar. Die Landes – ein flacher Landstrich im Südwesten Frankreichs, bekannt für seine endlosen Kiefernwälder und stillen Moore – erleben eine Rückkehr, die viele für unmöglich hielten. Seit März 2025 ist es offiziell: Der Wolf ist wieder da. Genauer gesagt, der Canis lupus lupus, die europäische Unterart des grauen Wolfs. Nach über 100 Jahren der Abwesenheit.

Was bedeutet das für die Region, die Menschen, die Tiere?


Ein Jahrhundert der Stille – und nun?

Zuletzt wurde ein Wolf in den Landes vor mehr als hundert Jahren gesichtet. Seitdem war es still – zumindest, was die großen Beutegreifer angeht. Jetzt haben sich diese Koordinaten der Natur verschoben. Der französische Staat bestätigte Ende März die Rückkehr des Wolfs, nachdem mehrere tote Schafe in der Gemeinde Castets gefunden wurden. Experten des Office Français de la Biodiversité (OFB) untersuchten die Spuren – der Verdacht bestätigte sich.

Zwei Attacken in wenigen Wochen. Tote Lämmer, verstörte Herden, ratlose Schäfer. Doch auch: Aufregung in Fachkreisen. Hoffnung bei Naturschützern. Und, ja – eine Diskussion, die mehr ist als ein lokales Ereignis.


Ein Räuber kehrt zurück – ein Ökosystem atmet auf?

Wölfe sind nicht einfach Räuber. Sie sind Regulatoren. Sie halten Populationen im Gleichgewicht, verhindern Überweidung durch Wildtiere und fördern so indirekt das Wachstum seltener Pflanzenarten. Ihre Rückkehr kann ganze Ökosysteme umstrukturieren – wie ein lang vermisstes Puzzlestück, das plötzlich alles zusammenfügt.

Erinnerst du dich an das Beispiel Yellowstone Nationalpark? Dort kehrte der Wolf in den 1990ern zurück. Die Auswirkungen waren erstaunlich: Hirsche wurden vorsichtiger, Auenlandschaften regenerierten sich, sogar der Lauf einiger Flüsse veränderte sich durch den neuen Einfluss. Wer hätte gedacht, dass ein Raubtier Landschaftsarchitekt spielen kann?

Aber funktioniert das auch in einer Kulturlandschaft wie den Landes?


Angst auf der Weide – Sorgen der Schäfer

Clément Grenet hat in diesen Wochen kaum geschlafen. Drei Angriffe innerhalb weniger Tage auf seine Herde. Ein Verlust von Tieren, aber auch von Vertrauen – in die Sicherheit seines Berufs. „Wir sind nicht gegen Wölfe“, sagt er, „aber wir wollen, dass man uns hilft. Wir brauchen Lösungen, nicht nur Beobachtungen.“

Viele Schäfer fühlen sich allein gelassen. Die Behörden raten zu elektrischen Zäunen, Herdenschutzhunden, verstärkter Kontrolle – doch wer bezahlt das? Wer übernimmt die Verantwortung, wenn ein Hirtenhund versehentlich einen Wanderer beißt oder ein Wolf trotzdem durchbricht?

Ist es nicht verrückt, dass ausgerechnet diejenigen, die Tiere großziehen, nun Angst um sie haben müssen – vor der Natur selbst?


Ein Spagat zwischen Schutz und Praxis

Der Wolf steht in Frankreich unter strengem Schutz. Seit seiner Rückkehr aus den italienischen Alpen Anfang der 1990er darf er nicht gejagt werden – außer unter strengen Ausnahmen, die nur bei nachgewiesener Gefahr und nach Genehmigung greifen. Diese Regeln schützen ihn – und sie erhitzen Gemüter.

Denn sie zwingen zur Koexistenz. Und die ist nicht einfach.

Die Landes sind bisher kein „Hotspot“ der Wolfspopulation. Doch die Region ist nicht weit entfernt von dauerhaft besiedelten Gebieten, etwa im Béarn oder auf dem Plateau de Millevaches. Die Anwesenheit des Wolfs in Nouvelle-Aquitaine ist also kein Zufall, sondern Teil einer natürlichen Ausbreitung. Die Tiere legen hunderte Kilometer zurück, auf der Suche nach neuem Lebensraum.

Ein Stück Wildnis kehrt zurück – in eine Welt, die sich ganz schön verändert hat.


Dialog statt Grabenkämpfe

Die Rückkehr des Wolfs ist ein Geschenk – und eine Herausforderung. Sie zwingt uns, zentrale Fragen zu stellen: Wie kann Naturschutz funktionieren, wenn er mit wirtschaftlichen Interessen kollidiert? Wie lassen sich uralte Ängste überwinden? Und: Können wir als Gesellschaft überhaupt noch mit der Wildnis umgehen?

Was fehlt, ist nicht Wissen. Es fehlt der Wille, sich zuzuhören. Es braucht mehr als Maßnahmenkataloge – es braucht echte Gespräche. Zwischen Wissenschaft, Politik, Landwirtinnen und Bürgerinnen. Nur wenn alle an einem Tisch sitzen, kann aus der Konfrontation eine konstruktive Zukunft entstehen.


Ein persönlicher Blick: Zwischen Faszination und Frust

Ich erinnere mich an einen Abend in der Auvergne. Ein Biologe zeigte mir Spuren im feuchten Waldboden – Wolf, ganz sicher. Und dann diese Stille. Diese Ahnung, dass hier mehr lebt als wir sehen. Seitdem hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.

Doch ehrlich gesagt: Es frustriert mich, wie schwer wir uns tun, mit dieser Rückkehr umzugehen. Der Wolf fordert uns heraus – nicht nur biologisch, sondern kulturell. Er erinnert uns daran, dass wir nie allein waren auf dieser Welt. Dass wir teilen müssen. Raum. Ressourcen. Verantwortung.


Mehr als nur ein Tier

Der Wolf ist Symbol. Für Angst. Für Freiheit. Für das Unkontrollierbare. In Zeiten, in denen wir versuchen, alles zu planen, zu sichern, zu versichern, bringt er das Gegenteil mit – Unvorhersehbarkeit.

Aber gerade das – so schwer es auch sein mag – macht ihn so wertvoll. Denn mit seiner Rückkehr kommt auch eine Chance: Naturschutz greifbar zu machen. Ökologische Prozesse zu verstehen. Und ein neues Kapitel des Zusammenlebens zu schreiben.

Vielleicht ist das der Anfang einer Geschichte, in der Mensch und Wildtier nicht gegeneinander, sondern miteinander existieren.

Von Andreas M. Brucker

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