Nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer Zeit des Umbruchs und der Neuanfänge, geschah in Süddeutschland etwas, das bis heute nur wenigen bekannt ist – ein Kapitel europäischer Nachkriegsgeschichte, das jahrzehntelang unter dem Mantel des Schweigens lag. Es betrifft hunderte Kinder, geboren zwischen 1946 und 1949. Ihre Mütter waren Deutsche, ihre Väter französische Soldaten, oft aus ehemaligen Kolonien, stationiert in der französischen Besatzungszone.
Viele dieser Kinder wurden gegen den Willen ihrer Mütter zur Adoption freigegeben – unter massivem Druck der Militärbehörden.
Marie ist eine von ihnen. Heute ist sie 78 Jahre alt. Ihr Vater war marokkanischer Soldat in der französischen Armee, ihre Mutter Deutsche. Im Alter von zwei Jahren kam sie zu einer Adoptivfamilie nahe Paris. Was sie dort erlebte, war alles andere als liebevoll: „Meine Adoptivmutter war oft wütend. Dann schrie sie: ‚Deine Mutter war eine Boche, dein Vater ein Bougnoule.‘“
Ein hartes Wort, damals wie heute. Und ein Spiegelbild jener Zeit, geprägt von tiefem Rassismus und Nachkriegstraumata.
Marie erzählt, wie sie irgendwann genug hatte. „Ich hab gesagt, ich find meine Mutter. Als ich 1968 heiratete, sind mein Mann und ich losgezogen, um sie zu suchen.“ Doch in ihrem Herzen war keine Versöhnung – nur Wut. Sie wollte der Frau, die sie geboren hatte, ins Gesicht spucken. Ihre kindliche Logik: Alles Leid sei die Schuld ihrer leiblichen Mutter gewesen.
Aber dann kam die Wahrheit ans Licht.
Marie erfuhr, dass ihre Mutter sie nie hatte aufgeben wollen. Der familiäre Druck war überwältigend. Und auch die französischen Besatzungsbehörden ließen nicht locker. Unter dem Deckmantel eines „besseren Lebens“ wurden Frauen zur Aufgabe ihrer Kinder gedrängt – nicht mit Gewalt, aber mit psychologischer Raffinesse.
So wie bei Claudine.
Auch sie wurde als Kind eines französischen Soldaten und einer deutschen Mutter geboren. Ihre Mutter war bei der Geburt minderjährig, kämpfte zunächst um das Kind – kapitulierte aber schließlich. „Wir waren ein bisschen wie Ware“, sagt Claudine heute nüchtern.
Und sie geht noch weiter: „Beide Nationen tragen Schuld – die einen, weil sie uns verkauft und aufgegeben haben, und der französische Staat, der uns einfach mitgenommen hat.“
Der Historiker Yves Denéchère von der Universität Angers hat die Akten beider Länder durchforstet. Seine Bilanz: rund 1.500 solcher Adoptionen allein zwischen 1946 und 1949. Das Verfahren lief erschreckend effizient: Lokale deutsche Behörden meldeten die Geburten. Französische Offiziere suchten die Mütter auf und versprachen eine rosige Zukunft für das Kind – wenn sie es zur Adoption in Frankreich gäben.
Man muss sich vorstellen, wie sich eine junge Frau in einem zerbombten Deutschland, mittellos und geächtet, da gefühlt haben muss?
Der Druck war subtil, aber wirksam: „Wie willst du in einem zerstörten Land ein Kind großziehen? Wenn du einen Deutschen heiraten willst, passt dieses Kind nicht in dein neues Leben.“ Diese Botschaften trafen ins Mark – und führten zu Entscheidungen, die viele Frauen nie vergessen haben.
Die Kinder wurden gesammelt in einer Art Säuglingsheim im Schwarzwald. Von dort aus begann die Auswahl: Wer weiß, gesund und „nicht zurückgeblieben“ war, hatte bessere Chancen. Dunkelhäutige Kinder? Die galten als schwierig vermittelbar. Einige wurden sogar nach Afrika geschickt – fernab jeder bekannten Welt, fernab jeder Gerechtigkeit.
Die deutsche Schriftstellerin Anke Feuchter hat dazu geforscht. „Natürlich bevorzugte man weiße Kinder. Die passten besser in das Bild, das Frankreich sich selbst geben wollte.“ Ein offenes Eingeständnis des institutionellen Rassismus.
Was für ein Leben blieb diesen Kindern?
Manche fanden liebevolle Familien. Andere litten ihr Leben lang unter Zurückweisung, Identitätsfragen, innerem Zwiespalt. Viele erfuhren nie, wer sie wirklich waren. Die leiblichen Mütter? Verstummt, beschämt, gebrochen.
Und das Frankreich jener Zeit?
Ein Staat, der sich nach Kriegsverlusten bemühen musste, seine Bevölkerungszahlen zu stabilisieren. Ein Staat, der sich als Sieger sah und sich das Recht nahm, das vermeintlich Beste für die Kinder zu entscheiden – auch wenn das bedeutete, sie ihren Müttern zu entreißen.
Heute wird langsam darüber gesprochen. Noch zögerlich, aber mit wachsendem Mut. Die betroffenen Kinder – längst im Rentenalter – holen ihre Geschichten ans Licht. Sie stellen Fragen, die jahrzehntelang niemand hören wollte. Warum hat man uns das angetan? Wer profitiert bis heute vom Schweigen?
Und vielleicht noch drängender: Was machen wir mit diesem Wissen – heute, im Europa der offenen Grenzen?
Von C. Hatty
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