Tag & Nacht

Mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie führte die Einführung der Barrieregesten zur Änderung alter und lieb gewonnener Gewohnheiten. Um uns vor dem Virus zu schützen, grüßen wir uns jetzt nur noch aus der Ferne. Werden sich unsere traditionellen Formen der Begrüßung, wie Küssen und Händeschütteln, nach der Pandemie verändern?

Wie lange ist es her, dass Sie jemanden zum Abschied geküsst haben? Und Hände geschüttelt? Haben wir diese Grußgewohnheiten schon vergessen? Maskiert, in einem Abstand von 1 Meter, stoßen wir mit unseren Ellbogen an, oder – noch abenteuerlicher – tippen wir den Fuß unseres Gegenübers an.

Fabienne Martin-Juchat, Anthropologin für körperliche und emotionale Kommunikation, glaubt, dass diese Pandemie „uns auf brutale Weise daran erinnert hat, dass der andere potenziell gefährlich sein kann, sie hat alte Ängste vor Krankheiten wie Pest und Cholera wieder geweckt, Ängste, die seit der Entwicklung der Sicherheit in Gesundheitsdingen beiseite geschoben worden waren“.

Und es kommt eine Art Misstrauen gegenüber anderen Menschen hinzu: „Die körperliche Beziehung zu anderen wird für eine lange Zeit gestört sein. Bei manchen Menschen sehen wir sogar eine Form von Phobie und Angst bei der Vorstellung, zu einem sensorischen Kontakt mit anderen zurückzukehren.“

Die Anthropologin sieht in dieser Situation aber auch eine positive Perspektive: „Sie bringt uns dazu, uns des anderen und der Beziehung, die wir zu ihm haben wollen, bewusst zu werden… Oft gibt es eine Art gegenseitiger Akzeptanz zwischen zwei Menschen, die sich gegenseitig so grüßen wollen, dass es allen passt“.

Der Wissenschaftlerin zufolge wird die Bise oder der Händedruck nicht verschwinden. Diese Gesten, die tief in unseren Kulturen verwurzelt sind, ermöglichen es den Menschen, ihren Platz in der Gesellschaft und ihre Beziehung zu anderen zu signalisieren.

„Diese Pandemie kann uns also erlauben, unsere körperliche Beziehung zu anderen neu zu erfinden oder neu zu justieren: Jeder kann sich also fragen, welches das richtige gestische Verhalten für ihn ist“.

Manche Menschen entscheiden sich, eine Bise – den Begrüssungskuss – nur und ausschließlich für Familie und Freunde zu reservieren, sehr zur Freude derjenigen, die diese Geste für zu intim halten, um sie zum Beispiel am Arbeitsplatz zu verwenden.

Insgesamt bleibt es jedem selbst überlassen, wie er diese Gesten, die laut Fabienne Martin-Juchat „aus der Tradition, aus Riten abgeleitet sind und die ein Gefühl der Zugehörigkeit und eine Rücksichtnahme auf den anderen vermitteln“, adaptieren möchte. „Den körperlichen Kontakt mit dem anderen zu verweigern, ist gleichbedeutend damit, eine Art von Ablehnung auszudrücken, und es ist sehr prblematisch, diesen Eindruck in der heutigen Gesellschaft zu erwecken“, stellt sie fest.

Die Professorin schildert den Fall von Jugendlichen nach den Lockdowns und Lockerungsphasen in der Pandemie: „Sie gewinnen schnell die Spontaneität in ihren Beziehungen zurück, und Gewohnheiten treten wieder in den Vordergrund“, erklärt die Anthropologin.

Wir haben alle in dieser Zeit der Pandemie entdeckt, was uns in Bezug auf die Beziehungen zu anderen fehlte, während wir gleichzeitig unsere Gewohnheiten überprüfen und die Grundlagen unserer Beziehungen zu anderen überdenken und gegebenenfalls ändern konnten.


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