Tag & Nacht




Der 8. Mai 1945 – ein Datum, das in Frankreich mit Stolz, Trauer und Verantwortung verbunden ist. In Paris und den Provinzen wehen die Trikoloren, Veteranen ziehen ihre alten Uniformen an, und in vielen Städten versammeln sich Menschen zu Gedenkveranstaltungen. Frankreich feiert die Kapitulation Nazi-Deutschlands als „Victoire 1945“. Doch dieser Tag ist weit mehr als ein nationaler Feiertag – er ist europäische Zäsur, Wendepunkt und Warnsignal zugleich.

Inmitten von Ruinen und Verwüstung bedeutete das Ende des Zweiten Weltkriegs für Frankreich nicht nur die Befreiung von der Besatzung, sondern auch die Wiedergeburt als Republik. Die Vichy-Regierung war Geschichte – ein dunkles Kapitel der Kollaboration, das lange verdrängt, dann doch aufgearbeitet wurde. General de Gaulle, der als Symbol des Widerstands galt, betrat die politische Bühne. Frankreich hatte seine Ehre wiedergefunden, so der nationale Tenor.

Doch wie feiert man einen Sieg, der auf über 60 Millionen Toten fußt?

Frankreich gedenkt mit Stolz, aber auch mit Ernst. Der 8. Mai ist ein Tag der Würde. Er erinnert an den Mut der Résistance, an das Leid der Zivilbevölkerung, an Deportationen und Massaker. In Schulbüchern steht der Begriff „Befreiung“, nicht „Sieg“ im Vordergrund. Das sagt viel über das französische Selbstverständnis im Umgang mit diesem Tag. Er ist nicht martialisch, sondern mahnend.

Europa hingegen? Hat den 8. Mai auf unterschiedliche Weise ins kollektive Gedächtnis aufgenommen. Während Frankreich den Tag mit militärischen Ehren begeht, war er in Deutschland jahrzehntelang ein Tag der Scham. Der Wandel begann erst in den 1980ern – mit offenen Debatten über Schuld, Erinnerung und Verantwortung. Heute ist der 8. Mai dort vielerorts ein Tag des stillen Gedenkens – noch kein offizieller Feiertag, aber einer, der mehr Gewicht bekommen hat.

Und warum ist das relevant?

Weil der 8. Mai weit über Gedenkfeiern hinausweist. Er ist Fundament der europäischen Nachkriegsordnung – ein Europa, das sich schwor: Nie wieder. Der Tag markiert den Beginn einer beispiellosen Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland. Aus Erbfeinden wurden Partner – aus Rivalität erwuchs Freundschaft. Ohne den 8. Mai kein Élysée-Vertrag, keine Europäische Union, kein Schengen, kein Euro.

Dabei war diese Annäherung kein Selbstläufer. Die Erinnerungskultur in Frankreich und Deutschland verlief lange Zeit parallel statt gemeinsam. Erst in den letzten Jahrzehnten gibt es Versuche, ein europäisches Narrativ zu schaffen – eines, das die Unterschiede nicht leugnet, aber Gemeinsamkeiten betont: Das Leid der Menschen, die Schuld der Täter, die Verantwortung der Nachgeborenen.

Frankreich nutzt den 8. Mai nicht nur zum Rückblick, sondern auch zum politischen Statement. Präsidenten nutzen ihre Reden, um an die Kraft der Demokratie zu erinnern – oder, je nach Lage, um vor neuen Bedrohungen zu warnen. Antisemitismus, autoritäres Denken, Geschichtsrevisionismus – all das hat auch im 21. Jahrhundert nicht ausgedient. Der 8. Mai ist da wie ein Seismograph: Er zeigt an, wenn die Erinnerung zu verblassen droht.

Und ja – immer öfter wirkt es, als ob dieser Tag in der europäischen Öffentlichkeit an Bedeutung verliert. In vielen Ländern ist der 8. Mai kein Feiertag mehr, sondern nur noch ein Eintrag im Kalender. In Schulen? Wird er oft nur beiläufig behandelt. Das ist fatal. Denn ein Europa, das sich nicht mehr an seine Bruchstellen erinnert, verliert den Kompass.

Was aber tun?

Vielleicht braucht Europa einen gemeinsamen 8. Mai. Einen echten Gedenktag, der nicht nur Historiker und Politiker beschäftigt, sondern auch die Jugend anspricht. Mit Filmen, Theaterstücken, Zeitzeugengesprächen. Emotional, nicht belehrend. Nahbar, nicht trocken. Denn Geschichte darf kein Elfenbeinturm sein – sie muss erlebt, erzählt und weitergetragen werden.

Frankreich geht hier oft voran. Die Ehrung der Résistance, die jährliche Teilnahme des Präsidenten an Gedenkfeiern, die Mahnmale an jeder Ecke – das sind starke Zeichen. Doch selbst in Frankreich ist die Erinnerung im Wandel. Die Generation der Zeitzeugen stirbt aus. Was bleibt, sind ihre Geschichten. Und unsere Verantwortung.

Denn der 8. Mai 1945 ist nicht nur ein Datum aus dem Geschichtsbuch. Er ist eine Mahnung, was passieren kann, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden – und gleichzeitig eine Erinnerung daran, was möglich ist, wenn Völker sich die Hand reichen, statt Waffen zu ziehen.

In Zeiten, in denen Europa wieder mit Krieg, Nationalismus und Identitätskonflikten ringt, hat dieser Tag eine brennende Aktualität. Er erinnert daran, wie zerbrechlich der Frieden ist – und wie wertvoll.

Daniel Ivers

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