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Was als formaler Akt galt, endete in einem politischen Signal mit Sprengkraft. Friedrich Merz, designierter Kanzlerkandidat der CDU und Architekt einer großen Koalition mit der SPD, ist im ersten Wahlgang zur Kanzlerschaft gescheitert – trotz rechnerischer Mehrheit. Ein Scheitern, das in Frankreich aufmerksam registriert wird. Denn die Stabilität des deutschen Partners ist für Paris nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar.

Die deutsche Bundestagswahl im Februar 2025 hatte keine Überraschung mehr parat gelassen, nachdem sich CDU/CSU und SPD – nicht zum ersten Mal – auf eine große Koalition verständigten. Der Koalitionsvertrag mit dem anspruchsvollen Titel „Verantwortung für Deutschland“ versprach wirtschaftliche Modernisierung, eine neue Migrationspolitik und eine selbstbewusste Außenpolitik. Doch diese programmatische Entschlossenheit steht in Kontrast zum politischen Auftakt, der von Unsicherheit geprägt ist.

Dass Friedrich Merz nun sechs Stimmen zur absoluten Mehrheit fehlen, ist mehr als eine vernachlässigbare Abweichung. Es ist ein Indiz für Unruhe in den eigenen Reihen. Wer in Berlin regieren will, muss Kontrolle über die Mehrheit im Parlament haben. Die Tatsache, dass diese Kontrolle Merz im entscheidenden Moment entglitt, schwächt nicht nur sein persönliches Mandat – sie untergräbt das Vertrauen in die Koalitionsdisziplin insgesamt.

Frankreich, das auf ein handlungsfähiges Deutschland als Partner in europäischen Fragen angewiesen ist, blickt mit Sorge auf diesen Fehlstart. In Zeiten geopolitischer Instabilität, ökonomischer Umbrüche und zunehmender transatlantischer Unsicherheiten, ist ein stabiles deutsch-französisches Tandem der Schlüssel zur strategischen Kohärenz Europas. Berlin muss führen wollen – und können. Der verhaltene Start des neuen Kanzlers weckt Zweifel an beidem.

Das Scheitern im ersten Wahlgang lässt verschiedene Interpretationen zu. Eine naheliegende ist der Widerstand innerhalb der SPD-Fraktion, deren linke Strömungen mit dem wirtschaftsliberalen Kurs von Merz fremdeln. Die angekündigte Lockerung der Schuldenbremse zugunsten von Infrastruktur und Verteidigung ist zwar pragmatisch, aber für viele in der SPD kein ausreichender Grund, einem konservativen Wirtschaftsideologen das Kanzleramt vorbehaltlos zu überlassen. Hinzu kommt die restriktivere Migrationspolitik, mit der Merz den rechten Rand beruhigen möchte – ein politischer Spagat, der in einer Koalition mit der SPD kaum ohne Reibung gelingen dürfte.

Merz will ein anderes Deutschland repräsentieren: ordnungspolitisch klar, sicherheitspolitisch robust, wirtschaftlich modernisiert. Für Frankreich klingt manches davon durchaus vertraut – insbesondere die Forderung nach mehr europäischer Autonomie in der Außen- und Verteidigungspolitik. Paris wird die Bereitschaft Berlins begrüßen, im Schatten eines unberechenbaren Washington eine eigenständige europäische Linie zu verfolgen. Doch ohne klare politische Rückendeckung im Inneren bleibt diese Ambition bloße Rhetorik.

Auch wirtschaftlich werden die deutsch-französischen Erwartungen nicht automatisch kongruent verlaufen. Während Paris die expansive Fiskalpolitik zu einem europäischen Grundprinzip erheben möchte, bleibt der deutsche Diskurs – auch unter Merz – tief verwurzelt in der Logik ordnungspolitischer Zurückhaltung. Zwar ist die Bereitschaft zu Investitionen erkennbar, doch bleibt unklar, in welchem Maß Merz die haushaltspolitischen Dogmen seiner Partei tatsächlich zu hinterfragen bereit ist. Für Präsident Macron und seine Nachfolger ist dies eine zentrale Frage, denn die Zukunft der europäischen Industriepolitik hängt an einem deutschen Umdenken.

In Frankreich gilt Merz als entschlossener Modernisierer mit konservativem Instinkt – kein Ideologe, aber auch kein Visionär. Seine klare Sprache, sein marktwirtschaftliches Denken und seine Skepsis gegenüber politischer Symbolik werden durchaus respektiert, aber seine Fähigkeit zum innerparteilichen Ausgleich ist noch unbewiesen. Gerade hier liegt das aktuelle Problem: Die CDU ist diszipliniert, doch die SPD ist tief gespalten – und der Bundeskanzler, so viel ist sicher, braucht beides: Zustimmung und Vertrauen.

Es bleibt Merz nun ein schmaler Pfad. Innerhalb von zwei Wochen muss er die notwendige absolute Mehrheit organisieren. Gelingt ihm dies nicht, drohen Neuwahlen – ein Szenario, das weder in Berlin noch in Paris gewünscht sein kann. Ein instabiles Deutschland wäre das falsche Signal in einem Moment, in dem Europa Führungsstärke und strategische Klarheit benötigt.

Die Ereignisse im Bundestag sind somit mehr als ein parlamentarisches Missgeschick. Sie markieren den schwierigen Beginn einer Kanzlerschaft, die unter den Erwartungen der eigenen Koalition startet und unter den Blicken ihrer europäischen Partner steht. Für Frankreich ist dies ein Weckruf: Die Kontinuität im deutsch-französischen Verhältnis darf nicht als selbstverständlich gelten. Sie muss aktiv gepflegt – und gelegentlich auch eingefordert – werden.

Von Andreas Brucker

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