Frankreich steht einmal mehr vor einer politischen Zerreißprobe. Der Sturz von Michel Barniers Regierung durch ein Misstrauensvotum – getragen von der ungewöhnlichen Allianz aus linker Opposition und Rassemblement National – hat die ohnehin fragile Lage in Paris weiter verschärft. Emmanuel Macron, der Präsident, ist gezwungen, schnell zu handeln. Doch in einem Parlament ohne klare Mehrheiten ist Stabilität mehr Wunschtraum als Realität.
Die Herausforderung für Macron könnte kaum größer sein: Zum vierten Mal in einem Jahr muss er einen oder eine Premierminister/in ernennen. Während er noch die Scherben der gescheiterten Regierungen von Élisabeth Borne, Gabriel Attal und jetzt Michel Barnier zusammenkehrt, stellt sich die Frage, ob der Präsident überhaupt noch einen Kandidaten findet, der nicht nach wenigen Monaten ebenfalls scheitert.
Ein Blick auf die Zahlen im Parlament zeigt die brutale Realität. Kein Block – weder Macrons zersplittertes zentristisches Lager, noch die Linke oder der RN – kommt auch nur in die Nähe der notwendigen 289 Sitze für eine absolute Mehrheit. Die politischen Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber, und keine Seite scheint bereit, über ihren Schatten zu springen. Es ist, als wäre das politische System in einen Dauerstillstand geraten, während die Probleme des Landes wachsen.
Die Optionen, die Macron bleiben, sind alles andere als ideal. Er könnte erneut auf eine fragile Allianz mit den Konservativen setzen und versuchen, jemanden wie François Bayrou oder Sébastien Lecornu an die Spitze der Regierung zu stellen. Doch dies würde ihn in eine gefährliche Abhängigkeit von Marine Le Pen bringen, die bereits gezeigt hat, dass sie bereit ist, das politische System zu destabilisieren, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Für sie war die jüngste Abstimmung ein „Schuss aus der Hüfte“ – aber wer kann garantieren, dass sie nicht erneut den Abzug drückt?
Die zweite Möglichkeit wäre ein linker Premierminister, wie es Olivier Faure von den Sozialisten fordert. Doch diese Option ist kaum realistischer. Jean-Luc Mélenchon hat jede Form der Zusammenarbeit mit der Mitte oder der Rechten kategorisch ausgeschlossen und nimmt damit nicht nur sich selbst, sondern auch potenzielle Partner in Geiselhaft. Es bleibt also die Quadratur des Kreises: Wie kann Macron eine Regierung bilden, die sowohl in der Mitte als auch in den extrem polarisierten Rändern Zustimmung findet?
Und genau hier liegt das Kernproblem: Die politischen Anführer scheinen weiter in ihren persönlichen Machtspielen verhaftet zu sein, während die Bevölkerung längst nach Pragmatismus schreit. Die Franzosen haben bei den letzten Wahlen bewiesen, dass sie bereit sind, ideologische Grenzen zu überwinden, um die Demokratie zu schützen. Doch ihre gewählten Vertreter verhalten sich, als sei diese Botschaft nicht bei ihnen angekommen. Stattdessen dominieren Machtspiele, Blockaden und die Angst vor dem Verlust des eigenen Einflusses.
Macrons Kritiker von links wie rechts warten nur darauf, dass der Präsident einen weiteren Fehler macht. Jean-Luc Mélenchon hofft, dass die politische Krise Macrons Rücktritt erzwingt. Marine Le Pen wiederum spielt ein langfristiges Spiel: Ihr Ziel ist es, das Vertrauen in das gesamte System zu erschüttern, um sich selbst als einzige Alternative darzustellen.
Was bleibt Macron also? Eine Antwort könnte in der Vergangenheit liegen. In der instabilen vierten Republik, die in den 1940er- und 1950er-Jahren von ständigen Regierungswechseln geprägt war, gab es ein ähnliches Patt. Damals führte der Weg aus der Krise über einen radikalen Neuanfang – in Form der Gründung der fünften Republik. Ob ein solcher Neuanfang heute nötig ist, bleibt offen. Klar ist jedoch, dass die bestehenden Mechanismen des politischen Systems an ihre Grenzen stoßen.
Macron muss jetzt zeigen, dass er nicht nur der Präsident von Reformen ist, sondern auch derjenige, der das Land in einer beispiellosen Krise zusammenhalten kann. Frankreich braucht mehr als einen neuen Premierminister. Es braucht eine Vision, die über politische Lager hinweg Vertrauen schafft. Ob Macron diese Vision liefern kann, wird darüber entscheiden, ob er die letzten Jahre seiner Amtszeit als starker Präsident oder als Symbol des Scheiterns in Erinnerung bleiben wird.
Die Zeit läuft. Und Frankreich schaut zu.
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