Tag & Nacht

Eine Bushaltestelle, eine Werbetafel oder eine Wand – dort, wo sonst grelle Anzeigen die Konsumgesellschaft ansprechen, leuchten plötzlich die Werke von Van Gogh, Da Vinci oder Manet. Das Projekt „La beauté sauvera le monde“ verwandelt Straßen in Museen und macht Kunst für alle zugänglich. Eine einfache, aber kraftvolle Idee, die von immer mehr Städten in Frankreich übernommen wird.

Ein Museum unter freiem Himmel

Das Konzept ist bestechend einfach: Werbetafeln werden durch großformatige Reproduktionen von Meisterwerken ersetzt. Statt an Reklamen vorbeizueilen, können Passanten Kunstwerke im Alltag genießen – sei es beim Warten auf den Bus oder bei einem Kaffee in der Sonne.

Die Idee entstand 2021 in der Stadt Saint-Dizier (Haute-Marne). Bürgermeister Quentin Brière wollte einen Gegenpol zur „morosité ambiante“, der allgemeinen Tristesse, schaffen: „Diese Werke öffnen Lichtspalten in den öffentlichen Raum und wecken das Staunen.“ Die Resonanz war so positiv, dass sich das Konzept seither über das ganze Land verbreitet hat.

Im Jahr 2024 beteiligen sich 32 Städte an der Aktion, darunter Aix-en-Provence und Saint-Raphaël. Jede Stadt gestaltet ihre Galerie individuell. In Saint-Raphaël, beispielsweise, wurden 20 Werke an 44 Standorten aufgestellt – mit einem klaren Ziel: Kunst ins Leben der Menschen zu bringen.

Kunst für alle: der demokratische Zugang zu Schönheit

Ein besonderer Reiz der Initiative liegt darin, dass sie Kunst kostenlos und barrierefrei zugänglich macht. „Wir wollten eine Auswahl treffen, die so vielfältig wie möglich ist, um alle Menschen zu erreichen“, erklärt Guillaume Decard, Kulturbeauftragter der Stadt Saint-Raphaël. Die gezeigten Werke reichen von Impressionismus bis zu Renaissance-Klassikern.

Für kleinere Städte ohne große Museen bietet dieses Konzept eine Möglichkeit, kulturelle Bildung im öffentlichen Raum zu fördern. Zudem sind die Kosten gering: Dank Partnerschaften mit dem Pariser Grand Palais oder der Nutzung gemeinfreier Werke liegen die Reproduktionskosten pro Bild lediglich bei wenigen Dutzend Euro.

Die Philosophie hinter der Schönheit

Der Name des Projekts, „La beauté sauvera le monde“ („Die Schönheit wird die Welt retten“), geht auf ein Zitat von Fjodor Dostojewski zurück. In seinem Roman Der Idiot beschreibt er Schönheit als eine Kraft, die das Unvollkommene in Vollkommenheit verwandelt.

Ob Schönheit tatsächlich die Welt retten kann, ist vielleicht eine philosophische Frage. Doch das Projekt zielt darauf ab, zumindest den Alltag der Menschen etwas heller und schöner zu machen. Es will den Blick heben – weg von der Konsumwelt, hin zu einer Auseinandersetzung mit dem, was unser Innerstes bewegt.

2024: „Licht in der Kunst“

Jedes Jahr steht die Aktion unter einem bestimmten Motto. 2024 dreht sich alles um das Thema „Licht in der Kunst“. Van Goghs Sternennacht, Monets Seerosen oder Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring – die Auswahl spiegelt die Vielfalt wider, mit der Künstler das Thema Licht eingefangen haben.

Doch die Initiative bleibt nicht stehen. Ab 2025 soll sie als eigenständiger Verein organisiert werden, um das Konzept noch weiter auszubauen und in weitere Städte zu tragen. Ziel ist es, Kunst als festen Bestandteil des öffentlichen Lebens zu etablieren.

Staunen statt Werben

Die Aktion wirft eine spannende Frage auf: Was passiert, wenn wir den Raum, der normalerweise der Werbung vorbehalten ist, mit Kunst füllen? Die Antwort zeigt sich in den Reaktionen der Menschen. Viele Passanten bleiben stehen, fotografieren die Bilder, sprechen darüber. Plötzlich ist Kunst nicht mehr etwas, das nur in Museen oder Galerien stattfindet – sie ist Teil des Alltags.

„Natürlich kann die Erfahrung einer Reproduktion nie mit der Originalkunst konkurrieren“, räumt Decard ein. „Aber es geht darum, etwas anderes als Konsum anzubieten und die Menschen zu berühren.“ Die Kunst soll inspirieren, irritieren und Emotionen hervorrufen.

Ein wachsender Erfolg

Das Interesse an „La beauté sauvera le monde“ wächst stetig. Städte wie Dunkerque, Laval oder Puteaux haben sich dem Projekt angeschlossen, und es entstehen immer neue Ideen, wie der öffentliche Raum kulturell genutzt werden kann.

Vielleicht ist genau das der Kern der Idee: Schönheit als Möglichkeit, die Welt ein kleines Stück besser zu machen – indem sie den Menschen einen Moment der Freude schenkt. Und wer weiß? Vielleicht hat Dostojewski doch recht, und die Schönheit kann mehr bewirken, als wir ahnen.


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