Tag & Nacht




Manche Daten brennen sich wie ein Brandzeichen in das kollektive Gedächtnis der Menschheit ein – der 20. Mai gehört zweifellos dazu. Was diesen Tag so besonders macht? Es ist die ungewöhnliche Dichte an Ereignissen, die auf weltpolitischer, kultureller und gesellschaftlicher Bühne Spuren hinterlassen haben. Werfen wir einen Blick auf das Kaleidoskop der Geschichte, das sich an diesem Datum entfaltet.

Ein Portugiese schreibt Weltgeschichte

Beginnen wir im Jahr 1498: Der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama erreicht nach monatelanger Fahrt über den Indischen Ozean die Stadt Calicut (heute Kozhikode) an der Südwestküste Indiens. Damit gelingt ihm, was Generationen von Entdeckern zuvor versucht hatten – der direkte Seeweg von Europa nach Indien. Diese Reise verändert den Welthandel radikal. Europa tritt in eine neue Ära ein: der Gewürzhandel boomt, neue Routen entstehen, Kolonialreiche werden gebaut. Dass diese Entwicklungen nicht nur Wohlstand, sondern auch Ausbeutung mit sich bringen, ist eine andere Geschichte – doch an diesem 20. Mai beginnt sie.

Ignatius von Loyola: Vom Krieger zum geistlichen Anführer

Nur wenige Jahrzehnte später, im Jahr 1521, trifft eine Kanonenkugel einen baskischen Edelmann namens Íñigo López de Loyola während der Belagerung von Pamplona. Was zunächst wie das abrupte Ende einer militärischen Karriere wirkt, wird zum Ausgangspunkt einer geistlichen Revolution. Während seiner langen Genesung beginnt Loyola religiöse Schriften zu lesen – und entdeckt eine Berufung. Aus dem verwundeten Soldaten wird der Gründer des Jesuitenordens, der später maßgeblich die katholische Gegenreformation prägt. Ein Schuss, der die Geistesgeschichte Europas mitprägte.

Frankreich und der lange Schatten des Kolonialismus

Springen wir ins Jahr 1961. In der französischen Stadt Évian beginnen am 20. Mai geheime Verhandlungen zwischen der französischen Regierung und Vertretern der algerischen Nationalbewegung FLN. Die Gespräche verlaufen zäh – und werden mehrmals unterbrochen –, doch sie markieren den Anfang vom Ende des Algerienkriegs. Dieser Konflikt, einer der blutigsten der Dekolonialisierung, fordert Hunderttausende Opfer. Für Frankreich bedeutet die Einigung nicht nur das Ende einer Kolonie, sondern auch eine tiefe politische Zäsur, deren Nachwirkungen bis heute in der französischen Gesellschaft spürbar sind. Die Fragen nach Integration, Identität und historischer Verantwortung – sie haben hier ihren Ursprung.

Der 20. Mai 1968: Frankreich steht still

Sie dachten, sie könnten die Welt verändern – und sie taten es zumindest ein Stück weit. Am 20. Mai 1968 stehen in Frankreich buchstäblich die Räder still. Über 10 Millionen Menschen streiken, Studenten besetzen Universitäten, Arbeiter fordern bessere Arbeitsbedingungen, mehr Mitsprache, mehr Demokratie. Was als Studentenprotest begann, wird zur sozialen Massenbewegung. Präsident de Gaulle fliegt heimlich nach Deutschland, um sich Rückendeckung beim Militär zu holen. Die „Événements de Mai“ erschüttern Frankreich bis ins Mark – und legen den Grundstein für die gesellschaftliche Öffnung der Siebzigerjahre. Freiheit, Gleichheit, Geschlechtergerechtigkeit – vieles von dem, was heute als selbstverständlich gilt, wird in jenen Maitagen angestoßen.

Der Mann mit dem Flugzeug und der grenzenlosen Courage

Und noch jemand schreibt an diesem Tag Geschichte: Charles Lindbergh. Am 20. Mai 1927 hebt er mit seinem einmotorigen Flugzeug „Spirit of St. Louis“ in New York ab. Ziel: Paris. Ohne Funk, ohne Autopilot – nur mit Mut, Kaffee und einem Haufen Sandwiches im Gepäck. Als er nach 33 Stunden tatsächlich in Le Bourget landet, liegt ihm die Welt zu Füßen. Der Flug gilt bis heute als einer der größten Pionierakte der Luftfahrt – und als Symbol dafür, dass der Mensch bereit ist, alles zu riskieren, wenn ihn der Traum vom Fliegen packt.

Ein Kleidungsstück erobert die Welt

Wie viele Jeans befinden sich gerade in irgendeiner Waschmaschine weltweit? Schwer zu sagen. Was aber klar ist: Ihre Erfolgsgeschichte beginnt ebenfalls an einem 20. Mai – im Jahr 1873. Damals erhalten der Schneider Jacob Davis und der Geschäftsmann Levi Strauss das Patent auf eine besonders widerstandsfähige Arbeitshose mit Nieten. Ursprünglich für Minenarbeiter im Westen der USA gedacht, wird die Jeans später zum Modeklassiker, Symbol jugendlicher Rebellion – und zum universellen Kleidungsstück, das Sozialgrenzen kurzerhand ignoriert. Wer hätte gedacht, dass ein simples Stück Stoff einmal Weltgeschichte schreibt?

Osttimor betritt die Weltbühne

Am 20. Mai 2002 nimmt eine kleine Nation am Rand Südostasiens offiziell ihren Platz auf der Weltkarte ein: Osttimor wird unabhängig. Jahrzehntelang unter indonesischer Besatzung, durchlebt das Land brutale Repressionen und blutige Konflikte. Doch mit der Hilfe der UNO gelingt die friedliche Staatsgründung. Auch wenn der Weg in die Stabilität lang ist – für viele Osttimoresen ist dieser Tag ein Aufbruch in die Selbstbestimmung.

Und sonst so?

Am 20. Mai 1990 schließen sich Nord- und Südjemen zu einem gemeinsamen Staat zusammen. Ein seltener Moment der Einheit auf der arabischen Halbinsel – wenn auch nicht von Dauer. Und: Im Jahr 1980 präsentiert Frankreich der Welt ein umstrittenes Architekturprojekt – die Glaspyramide im Hof des Louvre. Heute ist sie das bekannteste Fotomotiv des Museums.

Was sagt uns das alles?

Vielleicht, dass sich Geschichte nicht planen lässt – aber immer wieder von mutigen, eigenwilligen, unbequemen Menschen geprägt wird. Diejenigen, die sich auf den Weg machen, etwas zu verändern. Die hartnäckig sind. Die ankommen, obwohl niemand daran glaubt.

Wäre es übertrieben zu sagen, dass der 20. Mai ein Datum der Weggabelungen ist? Wahrscheinlich nicht. Wer an diesem Tag in der Geschichte gräbt, stößt immer wieder auf Umbrüche, Neuanfänge und – ja, auch Katastrophen. Doch gerade darin liegt seine Faszination: Man weiß nie, was ein einzelner Tag bewirken kann.

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