Der 9. Mai gehört nicht zu den Kalenderdaten, die man sich wie selbstverständlich merkt. Kein Weihnachten, kein 1. Januar. Und doch – was sich an diesem Tag im Lauf der Geschichte zugetragen hat, reicht von den Tiefpunkten der Menschheit bis zu ihren kühnsten Visionen. Weltweit und insbesondere in Frankreich birgt der 9. Mai eine eindrucksvolle historische Vielfalt.
Beginnen wir mit dem Elefanten im Raum.
1945 – Der Krieg ist aus, zumindest in Europa
Am 9. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg auf dem europäischen Kontinent offiziell vorbei – zumindest für die Sowjetunion und ihre Verbündeten. In den Morgenstunden dieses Tages trat die Kapitulation der Wehrmacht endgültig in Kraft. Während in vielen westlichen Ländern der 8. Mai gefeiert wird, ist für Russland und große Teile Osteuropas der 9. Mai der eigentliche Tag des Sieges. Warum das so ist? Ganz simpel: Als die Unterschriften unter das Kapitulationsdokument in Berlin gesetzt wurden, war es in Moskau bereits nach Mitternacht.
In Russland wird der „Tag des Sieges“ bis heute mit großem Pathos begangen – Militärparaden, Gedenkreden, Blumenberge auf Denkmälern. Es ist mehr als Erinnerung – es ist nationale Identität. Und man kann es ihnen kaum verübeln: Der Preis des Sieges war unermesslich hoch.
1950 – Eine französische Vision, ein europäisches Versprechen
Kaum fünf Jahre nach dem Inferno überraschte Frankreichs Außenminister Robert Schuman die Welt mit einem mutigen Plan. Am 9. Mai 1950 schlug er vor, die Kohle- und Stahlproduktion Frankreichs und Deutschlands unter eine gemeinsame Behörde zu stellen. Klingt technokratisch, war aber revolutionär. Ausgerechnet die Rohstoffe, mit denen zwei Weltkriege geführt wurden, sollten nun gemeinsam verwaltet werden – als Grundlage für Frieden.
Die Schuman-Erklärung war die Geburtsstunde dessen, was heute als Europäische Union bekannt ist. Seitdem wird der 9. Mai als Europatag gefeiert. In Luxemburg ist er sogar ein gesetzlicher Feiertag. Wer hätte gedacht, dass ein Verwaltungsakt so viel Hoffnung in sich tragen kann?
1770 – Eine österreichische Prinzessin auf dem Weg nach Versailles
Springen wir zurück in die Zeit des Barock. Am 9. Mai 1770 durchquert die 14-jährige Marie-Antoinette das lothringische Nancy. Auf dem Weg in ihre neue Heimat – Frankreich. Dort soll sie bald den französischen Thronfolger Ludwig XVI. heiraten. Eine dynastische Verbindung, politisch aufgeladen und voller Erwartungen.
Marie-Antoinette, Tochter von Kaiserin Maria Theresia, steht symbolisch für die engen Bande zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Doch die Geschichte meint es nicht gut mit ihr. Wenige Jahrzehnte später wird sie – einst umjubelte Dauphine – als Sinnbild der Dekadenz von der Revolution gestürzt und guillotiniert. Tragisch? Ja. Aber auch ein Weckruf an die Mächtigen ihrer Zeit.
1843 – Eisenbahn bringt Bewegung nach Frankreich
In Frankreich rollt am 9. Mai 1843 der Fortschritt in Form von Stahlrädern über neue Schienen. Die Eisenbahnlinie zwischen Paris und Rouen wird feierlich eröffnet. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind enorm – kürzere Transportzeiten, neuer Handel, industrielle Belebung. Es ist ein weiterer Mosaikstein im großen Puzzle der Industrialisierung, der Frankreich näher an das Zeitalter der Maschinen heranführt.
Und irgendwie auch eine stille Vorbereitung auf das Frankreich des 20. Jahrhunderts: mobil, vernetzt, leistungsfähig.
1960 – Die Pille kommt
Am 9. Mai 1960 genehmigt die US-amerikanische Gesundheitsbehörde das erste orale Verhütungsmittel – und innerhalb weniger Jahre revolutioniert es auch Europa. Frauen erhalten zum ersten Mal eine bequeme, eigenständige Kontrolle über ihre Fortpflanzung. In Frankreich trifft die Pille in den 60er Jahren zunächst auf Skepsis – vor allem aus kirchlichen Kreisen. Doch der gesellschaftliche Wandel lässt sich nicht mehr aufhalten.
Diese kleine Tablette steht nicht nur für sexuelle Selbstbestimmung, sondern auch für eine tiefgreifende Veränderung von Rollenbildern, Familienmodellen und Lebensentwürfen. Und heute? Kaum jemand denkt beim Datum 9. Mai daran – aber es war der Startschuss für mehr Autonomie in Millionen Leben.
1966 – Atomkraft: Hoffnung und Risiko
In der DDR, genauer gesagt in Rheinsberg, geht am 9. Mai 1966 das erste Atomkraftwerk des Landes ans Netz. Man träumt von einer strahlenden Zukunft, wortwörtlich. Doch was zunächst als energiepolitischer Triumph gefeiert wird, wandelt sich in den folgenden Jahrzehnten zur Belastung. Sicherheitsprobleme, Entsorgungsfragen, wachsende Skepsis – das Projekt Atomkraft entwickelt sich europaweit zur Dauerbaustelle. Rheinsberg wird 1990 stillgelegt.
Ein gutes Beispiel dafür, wie historische Euphorie oft von der Realität überholt wird.
Was bleibt vom 9. Mai?
Dieser Tag ist ein Geschichtsmosaik – mal düster, mal hoffnungsvoll, mal kurios. Er erzählt von einem Europa, das sich von Kriegen erholt und an Visionen wächst. Er erinnert an Frauen, die über ihre Körper selbst bestimmen wollen, an technische Innovationen, die die Welt schneller machen, und an politische Entscheidungen, die das Leben von Millionen prägen.
Ist es nicht faszinierend, wie ein einziges Datum so viele Schichten haben kann?
Also, wenn du das nächste Mal am 9. Mai durch deinen Alltag tappst, nimm dir einen Moment – vielleicht beim Kaffee oder in der Bahn – und denk dran: Heute war schon oft gestern. Und gestern hat verdammt viel bewegt.
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