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Der Vorschlag des französischen Abgeordneten und Ex-Premierministers Gabriel Attal, jedem Neugeborenen ein staatliches Startkapital von 1.000 Euro zu gewähren, hat das Potenzial, die Debatte über die Zukunft des Rentensystems in Frankreich neu zu justieren. Die Idee: Mit der Geburt wird ein individuelles Kapitalanlagekonto eröffnet, das nicht nur staatlich mitfinanziert, sondern auch von den Familien selbst bespart werden kann. Ziel ist es, eine ergänzende kapitalgedeckte Säule zur traditionellen Umlagerente aufzubauen – langfristig, generationengerecht, individuell gestaltbar.

Die Maßnahme steht exemplarisch für eine Entwicklung, die in vielen alternden Gesellschaften Europas diskutiert wird: Reichen Umlageverfahren, bei denen Erwerbstätige die Renten der Ruheständler finanzieren, langfristig noch aus? Oder braucht es neue Instrumente, die Kapitalbildung fördern und das System weniger abhängig von der demografischen Entwicklung machen?


Ein System unter Druck

Die französische Rentenversicherung basiert auf einem umfassenden Solidaritätsprinzip: Wer arbeitet, zahlt ein – und finanziert damit die Renten derjenigen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind. Doch dieses Modell gerät zunehmend unter strukturellen Druck. Das Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Rentnern verschlechtert sich kontinuierlich, während Lebenserwartung und Rentenbezugsdauer steigen. Gleichzeitig bleiben die Geburtenraten niedrig. Die Folge: Immer weniger Beitragszahler müssen für immer mehr Leistungsempfänger aufkommen.

In diesem Kontext zielt Attals Vorstoß auf eine Reform mit doppelter Stoßrichtung: Er will zum einen die langfristige Finanzierungsbasis des Rentensystems verbreitern, zum anderen das Bewusstsein für frühzeitige Vorsorge in der Bevölkerung verankern – idealerweise von Geburt an.


Kapitalstock als Vorsorgeprinzip

Die Idee, jedem Kind ein individuelles Vorsorgekonto einzurichten, ist radikal, aber nicht ohne Vorbilder. Sie erinnert an internationale Modelle wie etwa die britischen „Child Trust Funds“ oder jüngere Vorschläge für ein sogenanntes „Baby-Bond“-System in den USA. Der Charme solcher Konzepte liegt in ihrer Einfachheit: Ein frühes Startkapital kann über Jahrzehnte hinweg am Kapitalmarkt Rendite erwirtschaften – sofern es gut gemanagt wird. Familien erhalten die Möglichkeit, zusätzlich einzuzahlen, was durch steuerliche Anreize attraktiv gestaltet werden soll.

Anders als klassische Rentenbeiträge, die unmittelbar in den Umlauftopf fließen, würde hier ein Vermögensgrundstock gebildet, der einem bestimmten Individuum zugeordnet ist. Damit entsteht ein System von Eigenverantwortung und Perspektive – gerade für die jüngere Generation, die sich oft von der Rentendebatte abgekoppelt fühlt.


Offene Fragen und strukturelle Risiken

So ambitioniert der Vorschlag ist, so groß sind auch die Herausforderungen. Die Finanzierung der Maßnahme – jährlich rund 660 Millionen Euro – scheint zunächst überschaubar. Doch angesichts wachsender Haushaltsdefizite und steigender öffentlicher Verschuldung stellt sich die Frage, ob der Staat langfristig in der Lage ist, diese Zahlungen dauerhaft und verlässlich zu leisten.

Hinzu kommt ein wesentliches Risiko: Kapitalgedeckte Vorsorgemodelle sind marktabhängig. In Phasen niedriger Zinsen, hoher Inflation oder volatiler Märkte kann der Ertrag schrumpfen oder gar negativ ausfallen. Das unterscheidet sie fundamental vom Umlagesystem, das auf der produktiven Leistung der Gegenwart beruht – und daher weniger krisenanfällig ist. Zwar kann eine breite Streuung von Anlagen Risiken minimieren, doch ganz ausschalten lassen sie sich nicht. Das stellt insbesondere die politische Kommunikation vor eine Herausforderung: Wie wird Vertrauen in ein solches System geschaffen, insbesondere in einem Land mit traditionell großer Skepsis gegenüber Finanzmärkten?

Auch aus sozialpolitischer Sicht wirft der Vorschlag Fragen auf. Zwar würde jedes Kind denselben Startbetrag erhalten, doch die Möglichkeit zusätzlicher Einzahlungen dürfte stark vom Einkommen der Eltern abhängen. Gutverdienende Familien könnten ihren Kindern ein erheblich größeres Kapitalpolster verschaffen als sozial schwächere Haushalte – was im Ergebnis zu neuen Ungleichheiten führen könnte. Der Gedanke der Chancengleichheit würde so konterkariert, statt gestärkt.


Symbolpolitik oder ernsthafte Reform?

Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der politischen Machbarkeit. Attals Vorschlag ist bislang lediglich ein parlamentarischer Vorstoß, eingebettet in eine größere Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Ob daraus ein Gesetz wird, ist offen. Der Vorstoß scheint daher auch eine symbolische Komponente zu haben: Er signalisiert Reformbereitschaft, will neue Akzente setzen – und könnte als Türöffner für eine breitere Debatte über die Rolle kapitalgedeckter Systeme in der Altersvorsorge fungieren.

Dass Frankreich über Alternativen zum reinen Umlagesystem nachdenkt, ist überfällig. Doch eine echte Systemergänzung muss mehr leisten als symbolische Gesten: Sie muss politisch vermittelbar, sozial ausgewogen, wirtschaftlich tragfähig und institutionell glaubwürdig ausgestaltet sein. Kapitalgedeckte Vorsorgemodelle können ein Teil der Lösung sein – aber nur dann, wenn sie eingebettet sind in ein gesamtgesellschaftliches Verständnis von Fairness, Solidarität und Zukunftsvorsorge.

Autor: Andreas M. Brucker

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