Wenn Mauern sprechen könnten – was würden sie erzählen?
Wahrscheinlich Geschichten von Königen, Revolutionen, mutigen Architekten und Menschen, die der Welt ein Stück Erbe hinterlassen haben. In Ostfrankreich, wo sich das Burgund, das Juragebirge und die Südvogesen begegnen, wartet 2025 ein Festjahr auf Reisende, die mehr suchen als nur schöne Aussichten.
Denn gleich vier UNESCO-Welterbestätten feiern große Jubiläen – und nehmen ihre Besucher mit auf eine Zeitreise zwischen Stein, Wein und Visionen.
Besançon: Die Zitadelle und das goldene Zeitalter des Sonnenkönigs
Besançon liegt nicht nur idyllisch in einer Schleife des Flusses Doubs, sondern auch fest im Griff einer Festung, die schon beim ersten Anblick Respekt einflößt: die Zitadelle von Vauban. Dieses Meisterwerk strategischer Baukunst wird 2025 stolze 350 Jahre alt.
Doch statt in musealer Stille zu verharren, lebt die Zitadelle – und wie! Da wird gerätselt, gespielt, gestaunt: Wer Lust hat, kann sich bei einem historischen Escape Game durch die Wirren des Spanischen Erbfolgekriegs tüfteln. Oder wie wär’s mit einer spannenden Rekonstruktion der Kapelleneinweihung? Ja, der Sonnenkönig selbst – Ludwig XIV. – spielt dabei eine Hauptrolle.
Das Ganze wird eingerahmt von einem „Grand Siècle“-Sommer mit historischen Nachstellungen, Filmabenden unter freiem Himmel und einem Hauch französischer Eleganz, der förmlich in der Luft liegt.
Arc-et-Senans: Salz, Visionen und ein Matrose namens Corto
Wenige Kilometer weiter südlich entfaltet sich ein ganz anderes Kapitel der Geschichte – das der Königlichen Saline von Arc-et-Senans. Diese ehemalige Salzfabrik, in einem Halbkreis von gewaltigen klassizistischen Gebäuden gefasst, ist der Traum eines Architekten, der seiner Zeit weit voraus war: Claude Nicolas Ledoux.
250 Jahre nach ihrer Gründung erfindet sich die Saline 2025 neu. Im Mittelpunkt steht eine außergewöhnliche Ausstellung rund um die Figur Corto Maltese, den legendären Seemann aus den Comics von Hugo Pratt. Ein Hauch von Abenteuer durchzieht die Hallen, Zeichnungen treffen auf Träume, und man fragt sich fast unweigerlich: Gibt es einen besseren Ort für Seefahrerfantasien als ein ehemaliges Salzwerk?
Ronchamp: Le Corbusiers Kapelle – wie neu geboren
Die Anfahrt zur Kapelle Notre-Dame du Haut in Ronchamp führt durch Wälder und Hügel, bis plötzlich dieses eigenwillige Bauwerk auf einem grünen Hügel thront. Le Corbusier hat hier etwas geschaffen, das sich jeder Beschreibung entzieht – monumental und zugleich meditativ.
70 Jahre nach ihrer Erbauung erstrahlt die Kapelle 2025 in neuem Glanz. Die Sanierungsarbeiten, die über mehrere Jahre liefen, sind abgeschlossen. Die Fassade wirkt heller, der Innenraum klarer, das Licht – magisch wie eh und je.
Dieses Jubiläum feiert nicht nur ein Gebäude, sondern auch eine Idee: Dass Spiritualität nicht stillstehen muss, sondern mit der Zeit gehen darf. Vorträge, Führungen und Musikveranstaltungen machen diesen Ort zu einem lebendigen Denkmal.
Climats de Bourgogne: Wo der Wein Geschichte schreibt
Man muss es selbst erlebt haben – dieses besondere Licht, das über den Weinfeldern Burgunds liegt. Jede Parzelle, jeder Rebstock erzählt von Jahrhunderten der Sorgfalt, vom Terroir, vom Streben nach Perfektion. Die „Climats“ des Burgunder Weinbaugebiets feiern 2025 ihr zehnjähriges Jubiläum als UNESCO-Welterbe. Und die Region tut das, was sie am besten kann: feiern mit Stil und Geschmack.
Von Mai bis Juli verwandelt sich das Burgund in ein Fest der Sinne. Der „Mois des Climats“ bringt über 80 Veranstaltungen – darunter Weinwanderungen, kulinarische Märkte, Theateraufführungen in Weinkellern und offene Weingüter. Am 4. Juli pulsiert das Herz der Weinregion bei einem großen Fest im Ort Puligny-Montrachet – ein Fest, das man schmecken, riechen und tanzen kann.
Und im Dezember? Da wird’s intellektuell: Beaune und Dijon laden zu einem internationalen Kolloquium ein, das sich mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Weinanbaus beschäftigt.
Ein Jahr – vier Wege in die Vergangenheit
Was verbindet eine barocke Festung, eine revolutionäre Salzfabrik, eine moderne Kapelle und traditionsreiche Weinlagen? Sie alle erzählen vom menschlichen Drang, Spuren zu hinterlassen – in Stein, in Raum, im Geschmack.
Wer 2025 nach Ostfrankreich reist, wird nicht nur schauen, sondern staunen, mitmachen, schmecken und lernen. Jede dieser Stätten bietet Erlebnisse, die weit über das Übliche hinausgehen.
Und wer weiß – vielleicht findet man zwischen einem Glas Pinot Noir und einem Sonnenuntergang über Ronchamp auch ein kleines Stück von sich selbst wieder.
Ein Reisebericht von V.O.Yager
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