Tag & Nacht


Manchmal genügt ein Blick auf ein einziges Datum, um sich zu erinnern: Geschichte ist keine staubige Sammlung alter Fakten. Sie lebt – und formt, wie wir heute denken, handeln und streiten. Der 22. Juli ist so ein Tag. Voll mit Momenten, die manch einer im Geschichtsunterricht überhörte, die aber ganze Epochen verändert haben.


Im Takt der Weltgeschichte

1209 – Massaker in Béziers
„Tötet sie alle, Gott wird die Seinen erkennen“ – dieser Satz wurde angeblich gesprochen, als die Kreuzritter in Südfrankreich die Stadt Béziers stürmten. Es war der Auftakt zu einem blutigen Kreuzzug gegen die sogenannten Albigenser, eine religiöse Gruppierung, die dem Katholizismus ein Dorn im Auge war. Männer, Frauen, Kinder – niemand wurde verschont. Und das alles unter dem Banner der Religion.

Was bleibt? Ein finsteres Symbol für religiöse Intoleranz und der Beginn einer gezielten kulturellen Auslöschung. Nicht nur in Frankreich, sondern als Lehrstück für Europas Umgang mit Andersdenkenden.

1795 – Vertrag von Basel
Frankreich, mitten in revolutionärem Aufruhr, schließt Frieden mit Spanien. Der Krieg ist vorbei, doch der Einfluss Frankreichs wächst – nicht nur militärisch, auch ideologisch. Der Vertrag bringt Frankreich Kolonialbesitz in der Karibik und macht das Land zur dominierenden Kraft in Europa.

1862 – Abraham Lincolns Warnung
Der amerikanische Präsident kündigt intern an, die Sklaverei per Dekret zu beenden – allerdings erst, wenn militärisch Rückenwind herrscht. Ein taktischer Schritt mit moralischer Sprengkraft. Ohne diese Entscheidung hätte sich die Geschichte der USA – und die der Menschenrechte – ganz anders entwickelt.

1894 – Das erste Autorennen der Welt
Von Paris nach Rouen brettern selbstgebaute Vehikel, dampfbetrieben und mit zitternden Kesseln. Was heute kurios klingt, war der Beginn einer Revolution auf Rädern. Aus Hobbybastelei wurde in kürzester Zeit ein Milliardenmarkt. Diese Rallye hat mehr verändert, als es die Teilnehmer je erahnt hätten – inklusive der Art, wie Städte gebaut und Ressourcen verbraucht werden.

1916 – Ein Held der Lüfte
Wiley Post umrundet als Erster allein die Welt im Flugzeug. In sieben Tagen, um genau zu sein. Das klingt heute nach einem Wochenendtrip, war aber damals ein technisches Wunder – ein Meilenstein der Luftfahrt und der menschlichen Ausdauer. Der Himmel rückte ein Stück näher.

1934 – Tod von John Dillinger
Der wohl berühmteste Bankräuber Amerikas wird nach einer Kinovorstellung erschossen. Sein Leben war ein Filmstoff – und wurde auch mehrfach verfilmt. Doch mehr als nur ein Krimi: Dillinger war Symbolfigur für die Verzweiflung während der Weltwirtschaftskrise. Armut, Kriminalität und das Gefühl, dass Gesetze nicht für alle gleich gelten – all das spiegelte sich in seiner Geschichte.

1942 – Deportation aus dem Warschauer Ghetto beginnt
Der Beginn eines systematischen Völkermords. Über 250.000 Menschen wurden in wenigen Wochen nach Treblinka verschleppt – kaum einer überlebte. Es ist ein Tag, der brennt. In das kollektive Gedächtnis Europas, in die Geschichte der Shoah, in die Fragen nach Verantwortung. Auch Frankreich, damals unter Vichy-Regime, spielte bei der Deportation von Juden eine unrühmliche Rolle.

1960 – Frankreich schützt die Natur
Sieben Nationalparks entstehen auf einen Schlag. Das neue Gesetz will die Artenvielfalt bewahren und die Natur schützen – ein Novum für ein Land, das gerade dabei war, sich als Atommacht zu definieren. Die Idee, dass Fortschritt auch Nachhaltigkeit braucht, nimmt hier in Frankreich erstmals konkrete Form an.

2011 – Terror in Norwegen
Ein Tag des Schreckens. Erst explodiert eine Bombe im Regierungsviertel von Oslo. Dann erschießt der Attentäter Dutzende Jugendliche auf der Insel Utøya. Die Täter-Ideologie, rechtsextrem und islamfeindlich, bringt Europa in Alarmbereitschaft. Die Fragen von damals sind bis heute nicht beantwortet – wie umgehen mit Hass, Radikalisierung und dem Wunsch nach einem „geschützten“ Nationalstaat?


Frankreichs innere Linie

1912 – Jugend vor Gericht
Ein neues Gesetz führt Jugendstrafgerichte ein – ein bedeutender Schritt hin zu einem humaneren Strafsystem. Jugendliche Straftäter sollen nicht mehr wie Erwachsene behandelt werden. Es geht nun um Erziehung statt Bestrafung. Heute kaum wegzudenken, damals revolutionär.

1879 – Wer sitzt wo?
Die französische Nationalversammlung zieht nach Paris, der Senat bleibt im Palais du Luxembourg. Diese Entscheidung klingt bürokratisch, prägt aber das politische Gleichgewicht bis heute. Denn wo Politik gemacht wird, da entsteht auch Macht – Paris blieb Zentrum, Symbol und Bühne der französischen Demokratie.

1941 – Die ersten arisierenden Gesetze
Vichy-Frankreich beginnt mit der Enteignung jüdischer Bürger. Es ist der Auftakt einer systematischen Ausgrenzung – und einer Schuld, der sich das Land lange nicht stellte. Der 22. Juli markiert damit auch einen schmerzhaften Wendepunkt: die Kollaboration.


Ein Geburtstagskind, das Frankreich liebt

Marcel Cerdan, geboren 1916
Boxweltmeister, Geliebter von Edith Piaf, Nationalheld. Er war nicht nur ein Sportler – er war ein Mythos. Sein früher Tod bei einem Flugzeugabsturz versetzte das ganze Land in Trauer. Bis heute wird er in Frankreich wie ein Volksheiliger verehrt – ein Symbol für Stärke, Leidenschaft und tragisches Schicksal.


Warum der 22. Juli uns alle etwas angeht

Ein Massaker, das Toleranz infrage stellt. Ein Vertrag, der Kolonialgeschichte schreibt. Ein Gesetz, das Kindern eine zweite Chance gibt. Ein Rennen, das unsere Städte verstopft. Und ein Mord, der ein Land wachrüttelt.

Vergangenheit ist kein ferner Ort. Sie liegt direkt unter unseren Füßen – in der Straße, in der wir fahren, im Gesetzbuch, das wir anerkennen, in der Art, wie wir streiten oder Gedenken halten.

Wer glaubt, Geschichte sei vorbei – hat sie nicht verstanden.

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