Manche Daten brennen sich ins kollektive Gedächtnis ein wie Brandzeichen. Der 8. Mai gehört dazu. Ein Tag, an dem Triumph und Tragödie Seite an Seite stehen – in Frankreich, in Deutschland, auf der ganzen Welt. Ein Tag, der bis heute nachhallt.
1945: Der Krieg ist aus – zumindest in Europa
Der Zweite Weltkrieg hatte über 60 Millionen Tote gefordert, Städte in Schutt und Asche gelegt, Familien zerrissen. Am 8. Mai 1945 – um genau 23:01 Uhr mitteleuropäischer Zeit – trat die Kapitulation der Wehrmacht in Kraft. Der Krieg in Europa war vorbei. Für Millionen bedeutete das das Ende eines Alptraums. In vielen Städten wurde getanzt, geweint, gejubelt – oft alles zugleich.
In Frankreich erklangen an jenem Tag die Kirchenglocken wie seit Jahren nicht mehr. Menschen lagen sich auf der Straße in den Armen, schwenkten Trikoloren, sangen patriotische Lieder. In Paris feierte man das, was als „Victoire“ in die Annalen eingehen sollte – der Sieg über das Nazi-Regime, das Frankreich jahrelang besetzt gehalten hatte.
Doch wie immer ist Geschichte nicht schwarz-weiß.
Frankreichs doppeltes Gesicht am 8. Mai
Während in den Straßen französischer Städte gefeiert wurde, kam es in der algerischen Stadt Sétif, damals noch Teil des französischen Kolonialreiches, zu einem blutigen Massaker. Was als Protestmarsch für mehr Rechte der algerischen Bevölkerung begann, endete in einer Welle der Gewalt, bei der Tausende Algerier ums Leben kamen. Diese Ereignisse werfen bis heute einen Schatten auf den 8. Mai – gerade in der französischen Erinnerungskultur.
In Frankreich wurde der 8. Mai zunächst jedes Jahr gefeiert, dann jedoch wieder gestrichen, später erneut eingeführt. Heute ist er ein gesetzlicher Feiertag, doch der Umgang damit bleibt vielschichtig – nicht zuletzt wegen der kolonialen Vergangenheit, die zunehmend kritisch hinterfragt wird.
Deutschland: Ein schwieriger Gedenktag
In der Bundesrepublik galt der 8. Mai lange Zeit als „Tag der Kapitulation“, begleitet von Schweigen und Scham. Erst 1985 wagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker ein neues Narrativ: In einer bemerkenswerten Rede bezeichnete er den Tag als „Tag der Befreiung“. Damit durchbrach er ein jahrzehntelanges Tabu.
Heute hat sich diese Sichtweise durchgesetzt. In vielen Städten gibt es Gedenkveranstaltungen. Schulklassen besuchen Gedenkstätten, Politiker legen Kränze nieder. Der 8. Mai erinnert nicht nur an das Ende eines Krieges, sondern auch daran, was passieren kann, wenn Demokratie versagt und Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Aber ist der 8. Mai heute wirklich ein Tag der Einheit?
Ein Datum mit vielen Facetten weltweit
Auch jenseits von Europa bleibt der 8. Mai ein geschichtsträchtiges Datum. Ein paar Beispiele gefällig?
– Am 8. Mai 1902 explodierte der Vulkan Mont Pelée auf der Karibikinsel Martinique. Binnen Minuten tötete er fast 30.000 Menschen in der Stadt Saint-Pierre – einer der tödlichsten Vulkanausbrüche der Neuzeit.
– Im Jahr 1978 gelang Reinhold Messner und Peter Habeler etwas, was viele für unmöglich hielten: die Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffflasche. Das galt bis dahin als Wahnsinn. Doch die beiden bewiesen, dass Menschen mehr aushalten können, als man ihnen zutraut.
– Und 1980 vermeldete die WHO einen historischen Sieg: Die Pocken galten offiziell als ausgerottet. Ein Jahrhunderte alter Schrecken war damit Geschichte – dank weltweiter Zusammenarbeit und medizinischem Fortschritt.
Was bedeutet der 8. Mai heute?
Er ist ein Tag des Erinnerns. Ein Tag der Mahnung. Und vielleicht auch ein Tag der Hoffnung. Denn wer sich an die Abgründe der Geschichte erinnert, ist besser gewappnet für die Herausforderungen der Gegenwart.
Wir leben in einer Zeit, in der wieder Nationalismus aufkeimt, in der autoritäre Stimmen lauter werden, in der die Wahrheit oft auf der Strecke bleibt. Der 8. Mai ruft uns ins Gedächtnis: Demokratie ist kein Selbstläufer. Freiheit muss verteidigt, Frieden gepflegt werden.
Und doch – es wäre zu einfach, den 8. Mai nur als ernsten Gedenktag zu sehen. Er ist auch ein Tag, an dem man feiern darf. Dass Europa seit 1945 nie wieder einen großen Krieg erlebt hat. Dass Feinde von einst zu Partnern wurden. Dass Versöhnung möglich ist – wenn der Wille da ist.
Ein Tag, viele Geschichten
Der 8. Mai erinnert uns an das, was war, und an das, was sein könnte. Er zeigt, wie eng Triumph und Trauer miteinander verwoben sind. Wie eine Gesellschaft entscheidet, an was sie erinnert – und an was nicht. Und vielleicht ist das die wichtigste Frage an einem solchen Tag:
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