Am 23. Juli 1945, kaum zwei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, begann in Paris ein Prozess, der die französische Gesellschaft tief erschüttern und zugleich lange prägen sollte: Vor der Haute Cour de justice musste sich Marschall Philippe Pétain verantworten – einst gefeierter Held von Verdun im Ersten Weltkrieg, nun Angeklagter wegen Hochverrats. Acht Jahrzehnte später ist der Prozess nicht nur ein juristisches Schlüsselereignis, sondern auch ein Prüfstein nationaler Erinnerungspolitik geblieben.
Vom Nationalhelden zum Staatschef eines Kollaborationsregimes
Die Fallhöhe hätte kaum größer sein können. Pétain, geboren 1856, galt nach 1918 als „Retter Frankreichs“ – seine Führungsrolle in der Abwehrschlacht von Verdun hatte ihm mythische Verehrung eingebracht. Als Frankreich im Juni 1940 militärisch von Deutschland besiegt wurde, ernannte ihn die Nationalversammlung unter dramatischen Umständen zum Regierungschef. Schon bald etablierte er in Vichy eine autoritäre Staatsführung, die sich offen auf „Arbeit, Familie, Vaterland“ berief und mit dem nationalsozialistischen Deutschland zusammenarbeitete.
Die Legitimität dieser Politik beruhte auf einem weit verbreiteten Wunsch nach Ordnung, Sicherheit und Wiederherstellung der nationalen Größe – Werte, die Pétain rhetorisch geschickt bediente. Doch unter der Oberfläche wuchs ein Regime der Repression und Kollaboration, dessen historische Verantwortung bis heute Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen ist.
Der Prozess: Zwischen juristischer Abrechnung und symbolischer Geste
Der Prozess, der am 23. Juli 1945 im Palais de Justice begann, war ein außergewöhnliches Justizereignis: Nicht nur stand ein ehemaliger Regierungschef vor Gericht – es ging auch darum, Frankreichs eigene Rolle im System der nationalsozialistischen Besatzung zu bewerten. Die Anklage lautete auf Hochverrat und „Verständigung mit dem Feind“ („intelligence avec l’ennemi“) – juristische Formulierungen, die konkrete politische Handlungen wie das Zustandekommen des Waffenstillstands von 1940, den Arbeitsdienst (STO) und die Beteiligung an der Deportation der französischen Juden betrafen.
Die Verteidigungsstrategie des Angeklagten war auffallend passiv. Pétain erklärte gleich zu Beginn, er wolle sich nicht vor einem Gericht, sondern allein vor dem französischen Volk verantworten. Danach verweigerte er jede Aussage. Diese Haltung, von seinen Verteidigern als Ausdruck staatspolitischer Würde inszeniert, wurde von vielen Beobachtern als Versuch gewertet, einer detaillierten Verantwortung auszuweichen.
Zeugen der Zeitgeschichte: Blum, Daladier, Reynaud
Die Aussage von Léon Blum, dem früheren sozialistischen Premierminister, der selbst in Buchenwald interniert gewesen war, verlieh dem Verfahren eine besondere moralische Dimension. Blum sprach mit klarem Pathos von einer „moralischen Kapitulation“ Pétains und betonte, dass dessen Prestige das Vertrauen des Volkes missbraucht habe. Auch andere prominente Politiker wie Paul Reynaud oder Édouard Daladier – beide durch das Vichy-Regime entmachtet – erhoben schwere Vorwürfe.
Historiker wie Henry Rousso und Robert Paxton sehen in diesen Zeugenaussagen nicht nur einen juristischen Beitrag, sondern auch eine symbolische „Neuschreibung der Republik“, in der das Vichy-Regime ausdrücklich als Abweichung von republikanischen Werten dargestellt wurde.
Todesurteil mit Gnadenakt
Am 15. August 1945 fällte die Haute Cour ihr Urteil: Tod durch Erschießung, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, Einziehung des Vermögens. Doch General Charles de Gaulle, der selbst Exilführer der „Freien Franzosen“ gewesen war, wandelte das Urteil zwei Tage später in lebenslange Haft um. De Gaulle betonte dabei den „Dienst an der Nation“ Pétains während des Ersten Weltkriegs und dessen hohes Alter (89 Jahre). Pétain verbrachte seine letzten Lebensjahre in Einzelhaft auf der Atlantikinsel Île d’Yeu, wo er 1951 starb – einsam, verachtet, aber nicht vergessen.
Erinnerung zwischen Schuld und Mythos
Der Prozess gegen Pétain markierte den Beginn der französischen Auseinandersetzung mit der Kollaboration – ein Prozess, der sich über Jahrzehnte hinzog. In den ersten Nachkriegsjahren versuchte man, durch Prozesse gegen Hauptverantwortliche wie Laval oder Bousquet sowie durch die sogenannte „Épuration“ (Säuberung) in der Verwaltung die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Zugleich dominierte jedoch lange ein kollektiver Mythos des Widerstands („mythe résistancialiste“), der die Tiefe und Breite der Kollaboration verdrängte.
Erst in den 1970er- und 1980er-Jahren begannen Historiker wie Paxton, die Rolle des Vichy-Regimes in der Judenverfolgung differenziert zu analysieren. 1995 erkannte Präsident Jacques Chirac offiziell die Mitverantwortung des französischen Staates an – insbesondere bei der Razzia im Vélodrome d’Hiver im Juli 1942, bei der über 13.000 Juden festgenommen und später deportiert wurden.
Heute ist die Figur Pétains weitgehend aus dem nationalen Gedächtnis verbannt. Doch sein Prozess bleibt ein mahnendes Beispiel dafür, wie ein demokratischer Staat mit autoritärer Vergangenheit umgehen kann – oder muss. Die Fragen, die sich 1945 stellten, sind bis heute aktuell: Wie viel Schuld trägt ein Staatschef in Zeiten der nationalen Katastrophe? Wo endet Legitimität, wo beginnt Kollaboration?
Frankreich hat mit dem Pétain-Prozess vor 80 Jahren nicht nur juristisch, sondern auch symbolisch versucht, einen Neuanfang zu markieren. Ob ihm das gelungen ist, bleibt Teil einer fortwährenden Debatte.
Autor: Andreas M. Brucker
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