Manche Daten in der Geschichte tragen eine besondere Wucht in sich – der 9. Dezember gehört zweifellos dazu. Was auf den ersten Blick wie ein gewöhnlicher Tag im Kalender wirkt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Schlüsselmoment für Umbrüche, Neuanfänge und das Ringen um Selbstbestimmung. In Frankreich ebenso wie weltweit.
Beginnen wir in Südamerika.
Im Jahr 1824 kam es in Peru zur Schlacht von Ayacucho – dem finalen Schlag gegen die spanische Kolonialmacht auf südamerikanischem Boden. Die Unabhängigkeitskämpfer unter Antonio José de Sucre besiegten die königlichen Truppen. Damit zerbrach endgültig das koloniale Gefüge, das Spanien über Jahrhunderte hinweg in Lateinamerika etabliert hatte. Für die Völker der Anden bedeutete das nicht automatisch Freiheit im modernen Sinne – doch es war ein Startpunkt. Ein gewaltiger. Einer, der viele Nachwirkungen bis in die Gegenwart trägt, etwa im Stolz vieler Nationen auf ihre postkoloniale Identität.
Doch springen wir über den Atlantik, hinein ins Herz Europas.
Frankreich am 9. Dezember 1905: Ein Paukenschlag. Die französische Nationalversammlung beschließt das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat. Ein fundamentaler Wandel, der nicht nur das politische System, sondern die gesamte gesellschaftliche Ordnung betrifft. Die sogenannte Laïcité, der weltanschaulich neutrale Staat, wird zur DNA der Republik.
Plötzlich war Schluss mit religiösen Vorrechten im öffentlichen Raum. Keine Subventionen mehr für Kirchen. Keine geistlichen Symbole an staatlichen Schulen. Man stelle sich vor: Ein Land mit jahrhundertelanger katholischer Prägung vollzieht innerhalb weniger Jahre eine solche Zäsur. Das erzeugte nicht nur Applaus – sondern auch massive Spannungen.
Und diese Spannungen? Die gären bis heute.
Die Debatten um das Kopftuch in Schulen, um religiöse Symbole in Rathäusern oder um das Tragen religiöser Kleidung im öffentlichen Dienst sind direkte Erben jenes 9. Dezember 1905. Der Laizismus ist in Frankreich weit mehr als ein juristisches Konstrukt – er ist fast eine Zivilreligion geworden. Doch wie weit darf Neutralität gehen, ohne individuelle Freiheit zu unterdrücken? Eine Frage, die Frankreich immer wieder aufwühlt.
Nicht minder spannend ist ein Ereignis aus dem Jahr 1917: Britische Truppen marschieren in Jerusalem ein – zum ersten Mal seit Jahrhunderten steht die Heilige Stadt unter westlicher Kontrolle. Für viele ein symbolischer Akt. Für andere der Anfang neuer Konflikte. Die osmanische Herrschaft war vorbei, doch was folgte, war keine stabile Ordnung. Vielmehr setzte ein Prozess ein, der die gesamte Region bis heute prägt. Grenzen wurden gezogen – nicht selten mit Lineal und ohne Rücksicht auf kulturelle Realitäten.
Man fragt sich: Wie viel von dem, was heute im Nahen Osten geschieht, lässt sich auf diesen Moment zurückführen?
Deutlich hoffnungsvoller dagegen das Jahr 1979. Die Weltgesundheitsorganisation erklärt die Pocken für ausgerottet – nach Jahrzehnten internationaler Anstrengung. Millionen Menschenleben konnten dadurch gerettet werden. Der 9. Dezember wurde so zu einem Triumphtag der globalen Zusammenarbeit. Man mag sich fragen, wie dieser kollektive Erfolg in Zeiten von Fake News und Impfskepsis heute wohl aufgenommen würde.
Der 9. Dezember 1990 schließlich bringt frischen Wind in Osteuropa: Lech Wałęsa, einst Elektriker und Gewerkschafter, wird erster demokratisch gewählter Präsident Polens nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Was für ein Bild – ein Mann des Volkes übernimmt die Führung eines Landes, das sich aus dem Griff der Sowjetunion befreit hat. Der Übergang zur Demokratie verlief nicht reibungslos, aber das Momentum war da. Polen wandelte sich. Schritt für Schritt.
Solche Daten erinnern daran: Demokratisierung ist selten ein Feuerwerk, eher ein langer Marsch.
Ein weiteres Kapitel eröffnet sich am 9. Dezember 1961: Tanganjika, der heutige tansanische Festlandteil, wird unabhängig vom Vereinigten Königreich. Die Dekolonisierung Afrikas nahm Fahrt auf. Auch hier: kein schnelles Happy End. Koloniale Hinterlassenschaften wirkten nach, Grenzen blieben künstlich, Korruption und Armut machten sich breit. Doch dieser Tag symbolisiert den Aufbruch. Und bis heute lebt der Geist dieser Unabhängigkeit in vielen afrikanischen Ländern weiter – auch wenn der Weg dorthin teils steinig war.
Was also verbindet all diese Ereignisse?
Es sind Momente der Neuordnung. Des Umbruchs. Der Menschheitsgeschichte, die neu geschrieben wird – sei es mit Gewehrläufen, Parlamentsbeschlüssen oder medizinischem Fortschritt. Und fast immer: mit dem Mut, sich von alten Mustern zu lösen.
Der 9. Dezember erzählt nicht von spektakulären Revolutionen im Sinne blutiger Barrikadenkämpfe. Aber er zeigt, dass Wandel oft über die Gesetzesbücher, über internationale Zusammenarbeit oder zähe Verhandlungen erfolgt.
Und ganz ehrlich – ist das nicht die nachhaltigere Revolution?
Natürlich tragen nicht alle Menschen diesen Tag bewusst im Herzen. Doch seine Wirkung spüren wir, mal als Regelwerk im französischen Schulalltag, mal in der medizinischen Forschung, mal in geopolitischen Konflikten.
Ein Datum also, das im Gedächtnis bleiben sollte – nicht als starrer Gedenktag, sondern als Erinnerung daran, wie Geschichte gemacht wird: Schritt für Schritt, oft leise, aber wirkungsvoll.
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