Tag & Nacht




Hundert Jahre nach dem berühmten Manifest italienischer Intellektueller gegen Benito Mussolini schlägt eine neue Generation von Wissenschaftlern Alarm. Mehr als 400 Akademiker aus aller Welt, darunter mehrere Nobelpreisträger, haben sich zusammengeschlossen, um in einem öffentlichen Appell vor der Rückkehr autoritärer Strukturen zu warnen. Ihr Ziel: das Bewusstsein für die Gefährdung demokratischer Werte schärfen – in einer Zeit, in der autoritäre Tendenzen weltweit wieder an Boden gewinnen.

Geschichtsbewusstsein als politischer Kompass

Das historische Vorbild des neuen Schreibens ist das „Manifest der antifaschistischen Intellektuellen“ aus dem Jahr 1925. Damals protestierten italienische Denker gegen die zunehmende Gewalt und Unterdrückung unter Mussolini. Der neue Appell nimmt diese Tradition wieder auf, um auf die Erosion demokratischer Normen hinzuweisen. Die Unterzeichner sehen Parallelen zwischen dem damaligen Machtanspruch des Faschismus und aktuellen politischen Entwicklungen, insbesondere dort, wo Regierungen die Unabhängigkeit der Justiz, Medienfreiheit und Wissenschaftsfreiheit untergraben.

Globale Symptome eines autoritären Rückschritts

In verschiedenen Teilen der Welt mehren sich Anzeichen einer systematischen Schwächung demokratischer Institutionen. Besonders besorgt zeigen sich die Verfasser über Maßnahmen gegen oppositionelle Stimmen, über mediale Gleichschaltungstendenzen und die wachsende Einflussnahme von Regierungen auf Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Ohne explizite Namen zu nennen, verweisen die Autoren auf konkrete Entwicklungen, die etwa in Russland, den USA, Ungarn oder Israel beobachtet werden können.

Gerade die Vereinigten Staaten stehen erneut im Fokus der Kritik. Die Rückkehr Donald Trumps an die Spitze der politischen Macht und seine symbolträchtigen Inszenierungen – wie etwa die Militärparade zu seinem Geburtstag – gelten vielen Beobachtern als Ausdruck eines gefährlichen Führerkults. Der öffentliche Brief wurde bewusst in zeitlicher Nähe zu dieser Parade veröffentlicht, um einen Kontrapunkt zu setzen.

Wissenschaft im Kreuzfeuer der Politik

Zahlreiche Unterzeichner stammen aus der naturwissenschaftlichen Forschung, was den politischen Charakter der Warnung besonders unterstreicht. Denn gerade die wissenschaftliche Arbeit sieht sich weltweit wachsenden Beschränkungen ausgesetzt. In den USA wurden Forschungsgelder gestrichen, Behörden abgebaut und bestimmte Forschungsbereiche politisch instrumentalisiert oder marginalisiert. Solche Maßnahmen betreffen insbesondere sensible Felder wie Klimaforschung, Genderfragen oder Migrationsstudien.

Viele Wissenschaftler sprechen offen von einer Atmosphäre der Angst. Einige Verfasser des Schreibens traten zunächst anonym an die Öffentlichkeit – aus Furcht vor beruflichen oder politischen Repressionen. Diese Selbstzensur in akademischen Kreisen, so die Autoren, sei ein Warnsignal für den Zustand der Freiheit in westlichen Demokratien.

Die Rolle der Universitäten

Einige Intellektuelle betonen auch die Verantwortung der Hochschulen selbst. Diese müssten sich nicht nur gegen äußere Angriffe verteidigen, sondern auch nach innen kritische Selbstreflexion üben. Insbesondere die Offenheit für verschiedene politische Perspektiven innerhalb des akademischen Diskurses sei zu stärken. Der Ruf nach intellektueller Vielfalt, so die Initiatoren, dürfe nicht in einer politischen Schieflage ersticken, die berechtigte Kritik unterdrücke.

Gleichzeitig bleibt die Forderung nach mehr Autonomie und Unabhängigkeit der Hochschulen zentral. Forschung, Lehre und Diskurs seien konstitutive Elemente demokratischer Gesellschaften – und müssten entsprechend geschützt und gepflegt werden.

Ein moralischer Weckruf, keine politische Agenda

Die Neuauflage des Manifests erhebt keinen Anspruch auf parteipolitische Positionierung. Vielmehr ist sie ein moralischer Weckruf an Gesellschaft und Institutionen: Es gehe nicht um eine Gleichsetzung heutiger Entwicklungen mit den historischen Verbrechen des Faschismus, sondern um die präzise Beobachtung von Mustern, die Demokratien gefährden können. Dazu zählen Personenkult, autoritäre Sprachbilder, systematische Ausgrenzung von Minderheiten und die Aushöhlung rechtstaatlicher Kontrollinstanzen.

Der offene Brief erinnert daran, dass Demokratien nicht durch Putsch und Revolution verschwinden, sondern oft durch schleichende Entkernung – unter dem Applaus einer Mehrheit, die Stabilität mit autoritärer Stärke verwechselt.

Was vor einem Jahrhundert in Italien vergeblich versucht wurde, könnte heute neue Wirkung entfalten. Der offene Brief ist mehr als eine akademische Fingerübung – er ist Ausdruck einer globalen Sorge um die Zukunft offener Gesellschaften. Ob daraus politisches Handeln folgt, bleibt offen. Doch das Signal ist klar: Wachsamkeit ist kein Alarmismus, sondern eine demokratische Tugend.

Von Andreas Brucker

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