Am 16. Juli 1995 trat Jacques Chirac, kaum zwei Monate im Amt als Präsident der Französischen Republik, vor das Mahnmal des einstigen Vélodrome d’Hiver in Paris und sprach Worte, die sich tief ins kollektive Gedächtnis der Nation einprägen sollten: Zum ersten Mal bekannte ein französisches Staatsoberhaupt offen die Mitverantwortung des französischen Staates an der Deportation von Juden während der deutschen Besatzung. Die Shoah wurde damit nicht mehr nur als deutsches Verbrechen erinnert, sondern auch als französisches Versagen anerkannt. Es war ein symbolischer Bruch mit einer jahrzehntelangen offiziellen Erinnerungspolitik – und ein Meilenstein für eine offenere, selbstkritischere Gedenkkultur in Frankreich.
Die lange Leugnung der Verantwortung
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich die französische Staatsführung, allen voran General Charles de Gaulle, auf eine Interpretation der Geschichte festgelegt, die die Kollaboration des Vichy-Regimes mit dem NS-Regime als abweichende Episode ohne Legitimität ansah. In der Logik dieser „républicanischen Kontinuität“ existierte zwischen der Republik und dem Vichy-Staat keine institutionelle Verbindung – die Verbrechen seien nicht von der Republik, sondern von einem illegalen, fremdgesteuerten Regime begangen worden.
Diese Sichtweise wurde nicht nur von de Gaulle propagiert, sondern auch von seinen Nachfolgern übernommen. Besonders François Mitterrand hielt bis zu seinem Tod an der Trennung von Republik und Vichy fest. Auch persönliche Gründe dürften eine Rolle gespielt haben: Mitterrand war während der Besatzungszeit zunächst Beamter unter Vichy gewesen, bevor er sich später der Résistance anschloss. Noch 1994 legte er öffentlich einen Kranz am Grab von Marschall Pétain nieder – ein Akt, der international wie im eigenen Land für Empörung sorgte.
Doch mit der Zeit geriet die offizielle Geschichtspolitik unter Druck. Historiker wie Robert Paxton und Michael Marrus zeigten auf, wie sehr das Vichy-Regime nicht nur unter Zwang, sondern aus eigenem Antrieb mit den Deutschen kollaborierte. Insbesondere die Rolle französischer Verwaltungsbehörden bei der Erfassung, Verhaftung und Deportation jüdischer Bürger wurde immer klarer dokumentiert – etwa im Fall der „rafle du Vel’ d’Hiv“, der Massenverhaftung von über 13.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern am 16. und 17. Juli 1942, bei der kein einziger deutscher Soldat beteiligt war.
Der 16. Juli 1995: Ein rhetorischer und moralischer Einschnitt
Vor diesem Hintergrund markierte Chiracs Rede einen klaren Bruch mit der bisherigen offiziellen Linie. Der Satz, der sich ins kollektive Gedächtnis einbrannte, lautete:
„Ja, der Wahnsinn der Besatzer wurde unterstützt – von Franzosen, vom französischen Staat.“
Diese Aussage hatte es in sich. Chirac sprach nicht nur von einzelnen Kollaborateuren, sondern benannte den „État français“ – die Regierung in Vichy – als handelnde Instanz. Damit wurde die Verantwortung nicht auf Abweichler oder historische Randfiguren abgeschoben, sondern auf die Institutionen selbst gelenkt, die die Republik in dieser Zeit faktisch ersetzt hatten. Chirac sagte weiter:
„An diesem Tag beging Frankreich das Unwiederbringliche.“
Mit diesen Worten erklärte er die Deportation und Ermordung zehntausender französischer Juden zu einem Teil der französischen Geschichte – nicht nur als Erinnerung an Opfer, sondern als Bekenntnis zur Täterschaft.
Politische Reaktionen: Zwischen Zustimmung und Verstörung
Chiracs Rede fand breiten Zuspruch – insbesondere in der jüdischen Gemeinde, bei Historikern und Überlebenden. Serge Klarsfeld, einer der engagiertesten Anwälte der Aufarbeitung, nannte sie einen „historischen Moment von ungeheurer Bedeutung“. Auch Simone Veil, ehemalige Präsidentin des Europäischen Parlaments und selbst Überlebende von Auschwitz, würdigte die Rede als Akt der Gerechtigkeit gegenüber den Opfern und ihren Familien.
Gleichzeitig gab es auch deutliche Kritik, vor allem aus dem gaullistischen Lager. Einige Republikaner warfen Chirac vor, die nationale Kontinuität und die republikanische Unschuld in Frage zu stellen. Selbst François Mitterrand äußerte privat Bedenken: Die Republik sei nicht verantwortlich für ein Regime, das sie nicht anerkannt habe.
Doch die öffentliche Wirkung der Rede ließ sich nicht mehr zurückdrehen. Sie wurde zu einem Katalysator für eine neue Phase der Erinnerungskultur in Frankreich.
Folgen für das kollektive Gedächtnis
In den Jahren nach 1995 folgten konkrete politische Schritte. Im Jahr 2000 wurde der 16. Juli offiziell zum nationalen Gedenktag für die Opfer rassistischer und antisemitischer Verbrechen des französischen Staates erklärt. 2005 wurde das „Mémorial de la Shoah“ in Paris neu eingeweiht – ein eindrucksvolles Dokumentationszentrum und Ort des Gedenkens.
Auch die nachfolgenden Präsidenten schlossen sich Chiracs Linie an. François Hollande sagte 2012:
„Diese Verbrechen wurden von Frankreich begangen.“
Emmanuel Macron bekräftigte 2017 – zum 75. Jahrestag der Vel’ d’Hiv-Razzia – die Verantwortung des Staates und warnte vor jeder Form der historischen Relativierung. Dabei wandte er sich auch direkt gegen die Aussagen der rechtspopulistischen Politikerin Marine Le Pen, die behauptet hatte, Frankreich sei nicht für die Deportationen verantwortlich gewesen.
Heute ist die Anerkennung der Mitverantwortung des französischen Staates fester Bestandteil der französischen Erinnerungskultur. Der einstige Tabubruch ist zur Staatsräson geworden.
Frankreich hat mit diesem Schritt etwas getan, was in vielen Ländern noch aussteht: Es hat sich nicht nur an das Leid erinnert, sondern auch die eigene Rolle als Täterstaat anerkannt. Dieser Schritt war – und bleibt – unbequem. Aber er ist notwendig, um die Erinnerung an die Shoah nicht in ritualisierte Symbolpolitik verkommen zu lassen.
Autor: P. Tiko
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