Tag & Nacht


Er war verschwunden – für immer, dachte man. Doch nun steht er wieder auf den schroffen Graten der Pyrenäen, die Hörner gegen den Wind gereckt, als wäre er nie fort gewesen: der iberische Steinbock. Eine alpine Ikone, ein Symbol des Wildlebens – und eine der spektakulärsten Erfolgsgeschichten europäischer Artenerhaltung.

Mehr als ein Jahrhundert lang blieb der französische Teil des Gebirges ohne seine wohl markanteste Wildziegenart. 1910 wurde das letzte Tier der einst endemischen Unterart, Capra pyrenaica pyrenaica, durch Jagd und Lebensraumverlust ausgerottet. Als im Jahr 2000 auch das letzte Individuum auf spanischer Seite starb, war das Kapitel scheinbar endgültig geschlossen. Doch manche Geschichten wollen eben neu geschrieben werden.

Ein zäher Neuanfang in luftiger Höhe

2014 begannen Forscher:innen und Behörden beiderseits der Grenze, einen ehrgeizigen Plan umzusetzen: die Wiederansiedlung des iberischen Steinbocks – allerdings in Form seiner nächsten lebenden Verwandten, Capra pyrenaica victoriae. Diese lebt in Zentralspanien, in der Sierra de Guadarrama bei Madrid. Von dort wurden über Jahre hinweg Tiere gefangen, untersucht und schließlich auf verschiedene Höhenlagen der französischen Pyrenäen verteilt – darunter Cauterets, Gavarnie-Gèdre und das Gebiet des regionalen Naturparks Ariège.

Dabei war nichts dem Zufall überlassen. Strenge Gesundheitskontrollen – insbesondere gegen die gefürchtete Brucellose – sorgten für maximale Sicherheit für Tiere, Menschen und das Weidevieh der Region.

Die Rückkehr einer wilden Seele

Was folgte, übertraf selbst optimistische Erwartungen: Die Tiere fanden sich in ihrer neuen alten Heimat zurecht, pflanzten sich erfolgreich fort – und blieben. Zehn Jahre nach dem ersten Auswilderungsjahr leben heute rund 600 Steinböcke wieder in den französischen Pyrenäen. Im Nationalpark sind es 410, im Naturpark Ariège etwa 250.

Ein satter Zuwachs – und ein klares Zeichen dafür, dass der Steinbock nicht nur genetisch, sondern auch ökologisch bestens angepasst ist. Die Gebirgskette scheint ihm wie auf den Leib geschneidert. Die Population wächst nicht nur stabil, sondern auch gesund – bislang zumindest.

Ein bisschen Sorge bleibt immer

Natürlich ist kein Naturschutzprojekt ganz ohne Haken. Gerade die genetische Vielfalt der heutigen Population ist ein Punkt, der vielen Fachleuten Sorgen bereitet. Schließlich stammen alle Tiere aus relativ wenigen Elterntieren derselben spanischen Region. Der gefürchtete genetische Flaschenhals ist also ein realer Risikofaktor.

Aktuell wird diskutiert, gezielt neue Tiere aus anderen spanischen Populationen – etwa aus der südlich gelegenen Sierra Nevada – einzugliedern, um das Erbgut aufzufrischen. Eine Art genetischer Tapetenwechsel – notwendig, wenn der Steinbock langfristig überleben soll.

Auch der Gesundheitsschutz bleibt ein Thema. Regelmäßig werden Tiere eingefangen und untersucht – eine Maßnahme, die nicht nur den Steinböcken selbst dient, sondern auch der nahen Nutztierhaltung und dem Menschen. Zoonosen sind kein romantisches Thema, aber ein realistisches.

Grenzenlose Zusammenarbeit

Was diese Geschichte besonders macht, ist der Schulterschluss: Biolog:innen, Wildtierexpert:innen, Förster:innen und Behörden auf beiden Seiten der Grenze zogen – und ziehen – an einem Strang. Zwischen französischen und spanischen Nationalparks, lokalen Institutionen und europäischen Förderprojekten entstand ein Modell der grenzüberschreitenden Naturschutzkooperation, das Schule machen könnte.

Und wie oft gelingt das schon in Europa – dass ausgerechnet ein Steinbock zum verbindenden Symbol wird?

Ein Vorbild mit Hörnern

Der Blick zurück macht klar: Der Steinbock ist mehr als nur eine Art. Seine Rückkehr zeigt, dass man verlorene Arten mit Geduld, Planung und politischem Willen tatsächlich zurückholen kann. Die Pyrenäen sind dadurch nicht nur reicher geworden – sie sind auch ein Stück ursprünglicher, wilder, echter.

Solche Projekte machen Mut. Nicht, weil sie einfach wären. Sondern weil sie zeigen, dass schwierige Aufgaben lösbar sind – wenn man sie gemeinsam anpackt.

Und Hand aufs Herz: Wer würde nicht gerne einmal auf einem Berg stehen, dem Ruf eines Steinbocks lauschen – und dabei denken: „Du bist wieder da“?

Autor: Andreas M. Brucker

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