Tag & Nacht


Am 23. Juli 1945, nur wenige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, begann in Paris ein Prozess, der weit mehr war als ein juristisches Verfahren. Es war ein Akt nationaler Katharsis. Auf der Anklagebank: Marschall Philippe Pétain – Held von Verdun, Vater der „Révolution nationale“, und Symbol des moralischen Bankrotts einer ganzen Nation. Achtzig Jahre ist das jetzt her. Und doch beschleicht einen dieser Tage ein beunruhigendes Déjà-vu.

Frankreich, das Land der Aufklärung, der Menschenrechte, der Résistance, taumelt wieder. Und es fragt sich: Haben wir wirklich etwas gelernt?

Der Fall Pétain – eine nationale Zerreißprobe

Pétains Prozess war mehr als ein juristisches Urteil über Hochverrat und Kollaboration. Er war eine offene Wunde. Millionen Franzosen hatten das Vichy-Regime nicht nur ertragen, sondern unterstützt. Sie hatten weggesehen, als jüdische Kinder deportiert wurden. Sie hatten profitiert, als „unfranzösische Elemente“ entrechtet und ausgegrenzt wurden. Pétain war nicht nur Täter, er war Projektionsfläche – für die Angst vor dem Chaos, für das Bedürfnis nach Ordnung, für das Versagen einer ganzen Gesellschaft.

Und heute? Heute wird wieder projiziert. Wieder gefürchtet. Wieder gesucht: der „Schuldige“.

Vom Schatten des Vichy ins Licht des Front National

Wer heute durch Frankreich reist, hört wieder diese alten, gefährlichen Sätze. Dass „man im eigenen Land fremd sei“. Dass „die da oben“ das Volk verraten hätten. Dass „französische Werte“ verteidigt werden müssten – gegen Migranten, Muslime, „Globalisten“. Es ist der Soundtrack einer Nation, die sich selbst verliert. Einer Nation, die zu vergessen scheint, wohin dieser Weg schon einmal geführt hat.

Marine Le Pen, Erbin der Vichy-Rhetorik im neuen Gewand, hat es geschafft, den Front National zu normalisieren. Die Partei nennt sich inzwischen „Rassemblement National“, gibt sich bürgerlich, staatstragend – und bleibt im Kern eine Bewegung des Ressentiments, des revisionistischen Nationalismus. Und Frankreich? Frankreich wählt sie. Immer mehr. Immer offener. In manchen Départements wurde der RN bei den Europawahlen stärkste Kraft mit über 40 Prozent.

Ist das nicht ein kollektives Gedächtnisversagen?

Antisemitismus – die nie geheilte Wunde

Noch schlimmer: Der Antisemitismus, den viele nach dem Pétain-Prozess für überwunden hielten, ist zurück. Nicht mehr nur von den Rändern, nicht nur aus islamistischen Milieus, sondern auch in der Mitte. In den Schulen, in den sozialen Netzwerken, auf den Straßen. Die Affäre um die ermordete Holocaust-Überlebende Mireille Knoll (2018) war ein Fanal – und doch nur eine von vielen alarmierenden Episoden.

Wie konnte es so weit kommen? Wie kann ein Land, das sich jedes Jahr stolz an die Résistance erinnert, gleichzeitig dulden, dass jüdische Gemeinden wieder Angst haben, die Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen?

Geschichte wiederholt sich nicht – aber sie reimt sich

„Die Geschichte wiederholt sich nicht“, schrieb Mark Twain, „aber sie reimt sich.“ Und in Frankreich klingt der Reim derzeit erschreckend vertraut. Es ist nicht 1940. Aber die Sehnsucht nach autoritärer Ordnung, die Bereitschaft zur Ausgrenzung, die Gleichgültigkeit gegenüber den ersten Opfern – sie sind wieder da. Und sie greifen um sich.

Man will schreien angesichts dieser historischen Ironie. Man will rufen: Wacht endlich auf! Habt ihr denn Pétains Prozess vergessen? Habt ihr vergessen, was es bedeutet, wenn eine Demokratie sich selbst aufgibt – Schritt für Schritt, Gesetz für Gesetz, Wahl für Wahl?

Frankreich steht heute erneut an einem Scheideweg. Es kann sich entscheiden für die offene Republik, für Vernunft, Aufklärung und Erinnerung. Oder es kann wieder marschieren – in eine dunkle Zukunft, im Namen einer verklärten Vergangenheit.

Wer glaubt, man könne mit den Dämonen der Geschichte spielen, ohne sie zu entfesseln, irrt. Und dieser Irrtum hat in Frankreich schon einmal Millionen das Leben gekostet.

Ein Kommentar von Andreas M. Brucker

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