Eine Lektion über Planetengrenzen, Konsum und die Suche nach einem fairen Leben im Rahmen des Möglichen
- Juli 2025. Es ist Hochsommer. In Südeuropa flirrt die Hitze über den Feldern, in Griechenland kämpfen Feuerwehrleute gegen Waldbrände, in Deutschland diskutiert man über Strompreise und Klimaziele.
Und dabei geht heute ein Ereignis fast unter, das uns alle betrifft: der Erdüberlastungstag.
Er ist nüchtern berechnet, klar datiert – und doch so schwer zu fassen. Denn was bedeutet es eigentlich, wenn wir ab heute „auf Kredit“ leben?
Was passiert am Erdüberlastungstag?
Der sogenannte Earth Overshoot Day ist kein realer Tag, sondern ein messbarer Wendepunkt: Er markiert den Tag, an dem die Menschheit mehr natürliche Ressourcen verbraucht hat, als die Erde in einem Jahr regenerieren kann.
Das klingt abstrakt. Ist es aber nicht.
Stellen wir uns die Erde als Bankkonto vor. Sie zahlt uns jedes Jahr einen bestimmten Betrag an Ressourcen aus: fruchtbare Böden, sauberes Wasser, Fischbestände, Holz, CO₂-Aufnahmekapazität. Doch anstatt diesen Betrag sparsam zu nutzen, plündern wir das Konto. Wir leben auf Pump – ökologisch gesehen.
Im Jahr 2025 war dieser Kreditrahmen am 24. Juli erschöpft.
Ein globaler Kontostand im Minus
Die Berechnung des Overshoot Day basiert auf zwei Werten: der Biokapazität der Erde – also dem, was sie leisten und erneuern kann – und dem ökologischen Fußabdruck der Menschheit – also dem, was wir verbrauchen.
Wäre die Erde ein Unternehmen, würde man sagen: Unsere ökologische Bilanz ist tiefrot.
Würde die gesamte Weltbevölkerung so leben wie wir in Deutschland, wäre der Overshoot Day schon am 3. Mai gewesen. Fast drei Monate früher. Ein bitteres Signal.
Warum verschieben wir den Erdüberlastungstag nicht?
Weil wir im Hamsterrad sitzen. Globale Wirtschaftslogik, politische Kurzsichtigkeit und individuelle Bequemlichkeit schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu.
Doch wissenschaftlich sind die Ursachen klar:
- Kohlenstoffüberschuss: Etwa 60 % des ökologischen Fußabdrucks gehen allein auf CO₂-Emissionen zurück. Wälder und Meere können nur einen Bruchteil davon aufnehmen.
- Überfischung und Meeresausbeutung: Fischbestände werden vielerorts schneller entnommen, als sie sich erholen können.
- Entwaldung: Alle zwei Sekunden verschwindet weltweit eine Waldfläche von der Größe eines Fußballfelds. Mit ihr schrumpft die CO₂-Speicherung – und die Biodiversität.
- Landwirtschaftliche Übernutzung: Monokulturen laugen Böden aus, Pestizide zerstören Bodenleben, Grundwasser versickert schneller als es sich erneuert.
- Frischwasserverknappung: Viele Regionen verbrauchen mehr Wasser, als durch Niederschläge zurückgeführt wird.
Kurzum: Wir leben, als hätten wir 1,8 Planeten zur Verfügung. Haben wir aber nicht.
Eine unbequeme Wahrheit: Wir sind nicht alle gleich beteiligt
Der Erdüberlastungstag ist ein globaler Wert – aber die Verantwortung ist hochgradig ungleich verteilt.
Reiche Länder wie Deutschland, Frankreich, die USA oder Australien verbrauchen weit überproportional viele Ressourcen. In Deutschland bräuchte es drei Erden, um den dortigen Lebensstil weltweit zu ermöglichen.
Dagegen leben viele Länder des Globalen Südens unterhalb der planetaren Belastungsgrenze, leiden aber bereits massiv unter den ökologischen Folgen: Ernteausfälle, Wassermangel, Naturkatastrophen.
Klimagerechtigkeit? Noch lange nicht erreicht.
Kritik am Konzept – und warum es trotzdem zählt
Es gibt auch Kritik am Overshoot Day – und das ist gut so. Wissenschaft lebt vom Diskurs.
Einige Argumente:
- Die Berechnungsgrundlage sei zu grob. Beispielsweise werde unterstellt, dass alle CO₂-Emissionen durch Aufforstung kompensiert werden müssten – was realistisch kaum möglich ist.
- Technologische Entwicklungen, etwa CO₂-Abscheidung oder Effizienzsteigerungen, würden nicht ausreichend einbezogen.
- Soziale und kulturelle Aspekte – wie Zugang zu Bildung, Gendergerechtigkeit oder Wohlstandsverteilung – würden nicht berücksichtigt.
All das stimmt – und doch ist der Overshoot Day ein wertvolles Werkzeug: Er macht eine unsichtbare Krise sichtbar. Er bringt eine globale Wahrheit auf den Punkt: Wir leben über unsere Verhältnisse.
Was wäre, wenn…? Szenarien für eine planetenverträgliche Zukunft
Stellen wir uns vor, wir würden weltweit einige ganz konkrete Maßnahmen umsetzen:
- Lebensmittelverschwendung halbieren → +13 Tage
- 75 % erneuerbare Energie weltweit → +26 Tage
- Agroforstwirtschaft fördern → +2 Tage
- Langsamer konsumieren, weniger Auto fahren, regional essen → +x Tage
Plötzlich wäre der Overshoot Day nicht mehr im Juli – sondern vielleicht im September, im November… oder sogar gar nicht mehr notwendig.
Und was kannst du tun?
Diese Frage höre ich oft. Und sie ist berechtigt.
Ja, strukturelle Veränderungen sind nötig – und können nur durch Politik und Wirtschaft umgesetzt werden. Aber das entlässt niemanden aus der Verantwortung.
Denn jeder Euro, den wir ausgeben, ist ein Stimmzettel für die Welt, in der wir leben wollen.
Was wir konkret tun können?
- Energie sparen: Weniger heizen, weniger kühlen, LEDs nutzen.
- Mobilität überdenken: Fahrrad statt Auto, Bahn statt Flug.
- Fleischkonsum reduzieren: Ein Kilo Rindfleisch verursacht bis zu 15 kg CO₂.
- Regional und saisonal einkaufen.
- Dinge reparieren, teilen, gebraucht kaufen.
Und vor allem: drüber reden. Denn Veränderung beginnt im Kopf – und wächst durch Gemeinschaft.
Zwischen Frust und Hoffnung
Manchmal, nach langen Diskussionen über Kipppunkte, Biodiversitätsverluste und politische Blockaden, fühle ich mich wie ein Rufer in der Wüste.
Aber dann sehe ich: Schüler:innen, die Solarkocher bauen. Landwirte, die auf Humuswirtschaft umstellen. Bürgermeister:innen, die autofreie Innenstädte planen.
Und plötzlich weiß ich wieder: Es ist noch nicht zu spät.
Aber es ist spät.
Die große Herausforderung: Ökologie + Gerechtigkeit
Ein nachhaltiger Lebensstil darf nicht das Privileg der Wohlhabenden sein. Wenn wir über ökologischen Fußabdruck sprechen, müssen wir auch über Verteilungsgerechtigkeit, Kolonialgeschichte und Zugang zu Ressourcen reden.
Denn eine klimaverträgliche Welt ist nur möglich, wenn sie auch sozial gerecht ist.
Wissenschaft + Gesellschaft + Politik = Hoffnung
Die große Stärke des Overshoot-Konzepts liegt darin, dass es uns zwingt, Systeme zu hinterfragen: Unser Wirtschaften, unser Konsumverhalten, unsere Vorstellungen von Wachstum.
Was es dafür braucht?
- Politischen Mut: CO₂-Preis, Subventionsabbau, Infrastrukturwandel.
- Wissenschaftlichen Realismus: Klarheit über Grenzen – aber auch über Handlungsspielräume.
- Zivilgesellschaftliche Kraft: Klimabewegungen, NGOs, Bildungsarbeit.
Und vor allem: eine neue Erzählung.
Eine Geschichte, in der Wohlstand nicht auf Verschwendung basiert. In der Erfolg nicht durch SUV-Größe, sondern durch Lebensqualität gemessen wird.
Der Erdüberlastungstag als Weckruf
Der 24. Juli 2025 ist kein Zufall.
Er ist das Ergebnis von Entscheidungen – politischen, wirtschaftlichen, persönlichen.
Und er ist ein Warnsignal. Kein Weltuntergang, kein apokalyptischer Countdown – sondern ein dringender Weckruf. An uns alle.
Ob wir ihn hören, liegt an uns.
Autor: Andreas M. Brucker
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