Man muss sich das einmal vorstellen: Zwei Jahre lang floss aus den Wasserhähnen im südlichen Elsass Wasser, das mit sogenannten PFAS belastet war – chemischen Substanzen, die nachweislich gesundheitsschädlich sind. Zwei Jahre lang haben Kinder, Schwangere, ältere Menschen dieses Wasser getrunken, gekocht, sich damit gewaschen – nichtsahnend, dass sie sich dabei schleichend vergiften. Und zwei Jahre lang wussten die zuständigen Behörden Bescheid. Und taten: nichts.
Das ist kein „Versehen“. Das ist organisierte Verantwortungslosigkeit.
Was hier im Haut-Rhin geschieht, ist ein Musterbeispiel für ein politisch-administratives System, das bei Umweltgefahren zuerst vertuscht, dann beschwichtigt – und schließlich abtaucht. Es ist das Resultat eines tief sitzenden strukturellen Zynismus, der das Leben der Bürger unter das Primat der „technischen Machbarkeit“ stellt. Die zuständigen Stellen, allen voran die Präfektur, wussten seit Frühjahr 2023 von den überhöhten PFAS-Werten – und warteten über ein Jahr mit einem Warnhinweis. Erst im April 2025 wurde in elf Gemeinden der Konsum des Wassers offiziell untersagt. Für sogenannte „vulnerable Gruppen“. Als ob das Gift im Wasser davor Rücksicht genommen hätte, ob jemand schwanger, krank oder noch im Kindesalter ist.
Das ist keine Panne, das ist Staatsversagen.
Die politische Reaktion darauf? Minimalistisch. Ministerien verweisen auf die Zuständigkeit der Regionen, die Regionen auf die Betreiber, die Betreiber auf technische Details. Am Ende ist niemand verantwortlich – außer vielleicht die Menschen, die ihre Wasserrechnung trotzdem bezahlen sollen, obwohl sie für ein kontaminiertes Produkt zahlen. Das ist nicht nur zynisch, das ist eine Verhöhnung des Prinzips der Daseinsvorsorge.
Und genau da liegt der Kern des Skandals: Der Staat hat die Pflicht, die Gesundheit seiner Bürger zu schützen – nicht irgendwann, nicht vielleicht, nicht nach juristischer Prüfung, sondern sofort. Wenn in einem europäischen Land wie Frankreich das Trinkwasser in einer ganzen Region über Jahre hinweg mit potenziell krebserregenden Chemikalien belastet ist, dann darf die Reaktion nicht ein internes Memo und ein später Filterauftrag sein. Dann braucht es einen Alarmknopf – und zwar laut.
Die Bevölkerung hat jedes Recht, wütend zu sein. Die Bürger von Saint-Louis, Huningue und Bartenheim sind keine hysterischen Konsumenten – sie sind Betroffene eines strukturellen Versagens. Dass nun ein Kollektiv juristisch gegen die Agglomération Saint-Louis und Veolia vorgeht, ist keine „Instrumentalisierung“, wie es in manchen Verwaltungsfluren heißt – es ist Notwehr.
Denn was bleibt den Menschen sonst? Warten, bis der nächste Bluttest erhöhte PFAS-Werte zeigt? Bis sich Spätfolgen bemerkbar machen? Bis wieder einmal gesagt wird: Wir wussten von nichts, Die Datenlage war unklar, Wir wollten keine Panik auslösen?
Die Wahrheit ist: Es wurde nicht zu wenig getan. Es wurde bewusst nichts getan. Aus Angst vor politischem Schaden. Aus Bequemlichkeit. Vielleicht sogar aus Kostenkalkül.
Und das ist das eigentlich Unverzeihliche.
Ein Kommentar von Andreas Brucker
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