Tag & Nacht


Es gibt Orte, da weht der Mistral wie ein launisches Kind: mal wild, mal sanft, nie berechenbar. Früher war das ein romantisches Detail in den Erzählungen über die Provence – heute ist es ein Alarmsignal. In Martigues, dieser malerischen Stadt zwischen Meer und Pinien, ist der Wind zum Vorboten der Angst geworden.

Denn mit jeder Böe wächst das Risiko. Ein Funke reicht – und was eben noch Alltag war, verwandelt sich in einen Albtraum aus Rauch, Flammen und Evakuierung.

Wie lebt man damit?

Wie lebt man damit, dass der Sommer nicht mehr nach Lavendel riecht, sondern nach verbranntem Boden? Dass Kinder beim ersten Sirenenton nicht mehr an Feuerwehrmann Sam denken, sondern an Fluchtpläne? Dass jedes flackernde Licht am Horizont Panik auslöst – „Ist es wieder passiert?“ – weil man nie weiß, ob diesmal das eigene Haus dran ist?

Martigues hat’s schon wieder erwischt.

Mitte Juli brannte es heftig. 1.000 Feuerwehrleute, davon 500 aus dem Département Bouches-du-Rhône, standen an vorderster Front. Die Flammen fraßen sich an Wohnhäuser heran, drohten Industrieanlagen zu erreichen – und hinterließen ein verkohltes Trümmerfeld und Menschen, die sich hilflos fühlen. Wer sagt ihnen, dass es morgen nicht wieder losgeht?

Aber Martigues duckt sich nicht weg. Nein. Diese Stadt schaut der Gefahr ins Gesicht.

Mehr noch: Sie wächst daran.

Es ist fast surreal. Schulen, die aufklären. Bürger, die sich gegenseitig unterstützen. Behörden, die nicht mehr wegschauen, sondern Sperrzonen ausrufen und Pläne aktivieren, bevor das Feuer überhaupt lodert. Wer das einmal gesehen hat – dieses kollektive Aufstehen nach dem Schrecken – der spürt: Hier passiert etwas Großes.

Doch machen wir uns nichts vor.

Diese Resilienz, diese Anpassung, das ist kein Heldentum aus dem Bilderbuch. Es ist ein Notwehrreflex. Ein Überlebensinstinkt, geboren aus der bitteren Erkenntnis: Der Klimawandel ist nicht abstrakt. Er hat ein Gesicht. Und es ist schwarz von Ruß, salzig von Angsttränen und gezeichnet von Evakuierungsprotokollen.

Martigues steht sinnbildlich für eine Wahrheit, die viele noch verdrängen:

Wir werden brennen, wenn wir nicht handeln.

Nicht nur in Südfrankreich, sondern überall dort, wo Wälder zur Kulisse menschlicher Bequemlichkeit geworden sind. Wo Städte sich in Risikozonen hineinfressen. Wo Konsum über Klimaschutz steht, solange der Rauch nur beim Nachbarn aufsteigt.

Was braucht es also?

Eine neue Demut. Einen neuen Gesellschaftsvertrag mit der Natur. Und vor allem den Mut, Dinge zu verändern, bevor der nächste Feuersturm uns dazu zwingt. Warum lassen wir es so weit kommen?

Denn seien wir ehrlich: Wie viele Menschen müssten noch ihr Zuhause verlieren, wie viele Kinder mit verstörten Blicken aus dem Auto heraus das brennende Hinterland sehen, bevor wir das nicht mehr als „regional begrenztes Problem“ abtun?

Martigues lebt. Aber nicht in Ruhe.

Der Mistral wird wieder kommen. Und mit ihm die Frage: Sind wir diesmal besser vorbereitet? Oder wieder nur wütend überrascht?

So zu leben – mit dieser Ungewissheit, dieser latenten Angst – ist unmenschlich. Aber was noch unmenschlicher wäre, ist, so weiterzuleben, als ginge uns das alles nichts an.

Denn das Feuer kennt keine Postleitzahl.

Von C. Hatty

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