Man fragt sich wirklich, warum dieses Land nicht anders kann. Warum muss in Frankreich immer erst das große Chaos heraufbeschworen werden, bevor sich Regierung und Berufsgruppen an einen Tisch setzen? Flughäfen blockieren, Straßen lahmlegen, Bahnhöfe besetzen – das ist die Standarddrohung. Taxis, Bauern, Lehrer, Raffineriearbeiter, Lastwagenfahrer: alle spielen das gleiche Drehbuch. Und der Staat? Er reagiert erst, wenn die Nation im Stau steht.
Es ist eine politische Kultur, die zum Verzweifeln ist. Ein permanenter Ausnahmezustand, eine Geiselhaft der Öffentlichkeit. Millionen Pendler, Patienten, Reisende werden zwischen den Fronten zermalmt – nur weil Regierung und Verbände unfähig sind, rechtzeitig miteinander zu reden. Das ist nicht nur ineffizient, es ist zutiefst respektlos gegenüber der Gesellschaft.
Die große Geste zählt mehr als die leise Verhandlung
Frankreich liebt die große Geste. Ein entschlossener Aufstand, ein martialischer Streik, ein Blockadezug über die Champs-Élysées – das wirkt heroisch, fast revolutionär. Und tatsächlich: In keinem anderen europäischen Land wird so regelmäßig das öffentliche Leben lahmgelegt.
Doch genau das ist das Problem. Wo andere Demokratien auf Vermittlung, Sozialpartner, Kompromissmechanismen setzen, kennt Frankreich nur das Eskalationsritual. Die Regierung hält stur an ihren Plänen fest, die Verbände rufen zur „Mobilisation générale“. Und am Ende geht es nie um Argumente, sondern um Macht: Wer hält länger durch, wer kann größeren Schaden anrichten?
Opfer sind immer die Gleichen
Die Leidtragenden dieser Dauerkonfrontation sind nicht die Minister oder die Gewerkschaftsführer, sondern ganz normale Menschen. Wer am 5. September einen Flug gebucht hat, wer krank zum Arzt muss, wer zur Arbeit pendelt, wird die Wut der Taxifahrer zu spüren bekommen. Die Menschen werden Stunden im Stau stehen, Flüge verpassen, Termine versäumen.
Und irgendwann stellt sich die Frage: Wieso soll die Gesellschaft Verständnis haben für eine Branche, die ihre Interessen stets über das Gemeinwohl stellt? Ja, es geht um Existenzen, ja, die neue Tarifregelung ist hart. Aber ist es legitim, dafür ein ganzes Land lahmzulegen?
Ein politischer Bankrott
Das Drama liegt darin, dass Blockade und Krawall in Frankreich funktionieren. Regierungen knicken regelmäßig ein, sobald der Druck groß genug wird. Das belohnt die Radikalen und schwächt die Stillen, die Kompromisse suchen. Wer schreit, bekommt. Wer verhandelt, geht unter.
So entsteht ein Teufelskreis: Jedes Jahr ein neuer Protest, jede Berufsgruppe mit ihren Forderungen, immer derselbe Mechanismus. Statt Verlässlichkeit herrscht Erpressbarkeit. Frankreich schafft es nicht, die Kultur des Dialogs zu etablieren, die in Deutschland, Skandinavien oder den Niederlanden selbstverständlich ist.
Frankreich ist stolz auf seine Protesttradition, seine Barrikadenromantik, seine revolutionäre Pose. Doch was einst Ausdruck von Freiheitsdrang war, ist heute eine Karikatur seiner selbst. Eine Demokratie, die nur über Druck, Blockaden und Chaos funktioniert, verspielt ihre Zukunft.
Und deshalb lautet die eigentliche Frage nicht, wie viel die Taxifahrer pro Kilometer abrechnen dürfen. Sondern: Warum ist Frankreich unfähig, Konflikte zu lösen, bevor das Land im Stillstand versinkt?
Ein Kommentar von Andreas M. Brucker
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