Es sollte ein Meilenstein sein – ein Neuanfang im französischen Regionalverkehr. Doch zwei Monate nach dem Start wirkt es eher wie ein Stresstest für Pendler. Seit dem 29. Juni 2025 betreibt das Verkehrsunternehmen Transdev die Regionalzuglinie TER zwischen Marseille und Nizza, als erste bedeutende Fernverbindung in Frankreich außerhalb des Monopols der SNCF. Das Versprechen: mehr Züge, bessere Pünktlichkeit, moderner Service. Die Realität? Ein holpriger Start mit Verspätungen, Ausfällen und überfüllten Zügen – und einer wachsenden Welle an Frust.
Große Worte, große Pläne
Transdev trat selbstbewusst auf die Bühne. Der Anbieter, der sich in einer europaweiten Ausschreibung gegen die SNCF durchgesetzt hatte, kündigte an, das Angebot massiv auszubauen. Statt sieben sollten nun 14 Zugpaare wochentags verkehren – am Wochenende sogar bis zu 16. Ziel: 97 Prozent Pünktlichkeit, gemessen ohne infrastrukturelle Probleme wie Signalstörungen oder Baustellen.
Für diese Mammutaufgabe investierte Transdev kräftig: 250 Millionen Euro flossen in 16 brandneue Omneo-Premium-Züge von Alstom – komfortabel, schnell, doppelt so lang wie bisherige Züge. Auch ein eigenes Wartungszentrum in der Nähe von Nizza wurde errichtet, mit Unterstützung der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur.
Die Marschrichtung war klar: moderner, effizienter, kundenfreundlicher. Soweit der Plan.
Alltag statt Aufbruch
Doch nur wenige Wochen später ist die Ernüchterung groß. Verspätungen gehören zur Tagesordnung. Züge fallen aus – teils kurzfristig, teils stundenlang. Und wenn sie fahren, sind sie oft so überfüllt, dass viele Fahrgäste stehen oder gar nicht mehr mitfahren können.
Ein besonders drastisches Beispiel: Am 3. August blieb ein Zug in der Station „Les Arcs“ ganze 14 Stunden liegen – wegen eines technischen Defekts. Die Reaktion von Transdev? Zögerlich, schlecht koordiniert, wie viele Betroffene auf sozialen Medien berichten. Kein Ersatzverkehr, kaum Informationen, völliges Kommunikationschaos.
Nicht nur einmal, sondern regelmäßig sei die Strecke zum „Hindernislauf“ geworden, klagen Pendler. Der Frust wird laut – auf Twitter, Facebook, im persönlichen Gespräch auf dem Bahnsteig.
Billiger? Besser? Fehlanzeige.
Auch die Preisgestaltung sorgt für Stirnrunzeln. Manche Tickets auf der Strecke kosten mehr als vergleichbare TGV-Verbindungen – bei deutlich geringerem Komfort. Die Folge: Das Vertrauen bröckelt. Was nützt ein vollmundiges Versprechen, wenn am Ende kaum jemand pünktlich ankommt?
Das zentrale Problem liegt dabei nicht nur in den verspäteten Lieferungen – Transdev erhielt einige der bestellten Omneo-Züge erst später als geplant. Um die Lücken zu füllen, wurden ältere Züge aus anderen Regionen geliehen – ein bunter Flickenteppich aus verschiedenen Modellen, die offenbar anfällig sind für technische Probleme.
Menschliches Versagen?
Doch auch beim Personal hakt es. Einige der neu eingestellten Lokführer haben laut Medienberichten die Prüfungen bei der SNCF nicht bestanden. Andere müssen sich noch an die komplexe Streckenführung und den Fahrplan gewöhnen. Die mangelnde Erfahrung scheint sich auszuwirken – auf die Zuverlässigkeit genauso wie auf das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste.
Viele Nutzer berichten von chaotischen Abläufen, unklaren Durchsagen und planlosen Zug-Evakuierungen. Was ist zu tun, wenn ein Zug liegen bleibt? Wer übernimmt die Kommunikation? Wer organisiert Hilfe? All das scheint bei Transdev noch in der Lernphase zu sein.
Ein Erfolg für die Statistik?
Kurios: Die Region PACA zeigt sich dennoch zufrieden. 735.000 Fahrgäste seien in den ersten acht Wochen befördert worden – ein Rekordwert. Doch was sagen nackte Zahlen, wenn der Alltag für viele zur Zumutung wird?
Die Diskrepanz zwischen politischer Rhetorik und gelebter Realität ist groß. Während sich Regionalpräsidenten auf die Schulter klopfen, sehen sich Pendler mit Wartezeiten, hitzigen Wagons und undurchsichtigen Fahrplänen konfrontiert.
Was jetzt?
Die Grundfrage bleibt: Was bedeutet Wettbewerb auf der Schiene wirklich? Kann ein privater Anbieter tatsächlich effizienter sein als der jahrzehntelang etablierte Staatskonzern SNCF?
Die Antwort darauf ist bislang nicht ermutigend. Natürlich – neue Anbieter brauchen Anlaufzeit. Natürlich – nicht alles liegt in der Hand von Transdev. Viele Verspätungen haben mit überlasteter Infrastruktur zu tun, für die die nationale Bahngesellschaft verantwortlich ist. Doch: Wer sich auf den freien Markt wagt, muss auch liefern. Und zwar schnell.
Die kommenden Monate werden entscheidend. Ob Transdev die Fehler ausmerzen kann – oder ob die Marseille-Nizza-Verbindung zum Mahnmal einer überhasteten Liberalisierung wird.
Denn irgendwann stellt sich jeder Fahrgast dieselbe Frage: Bleibe ich treu – oder steige ich um?
Autor: Andreas M. B.
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