Die Vorstellung, Frankreich könne „unter Tutelle“ gestellt werden – unter die Aufsicht einer externen Autorität –, wirkt auf den ersten Blick wie ein Gedankenspiel aus dem Bereich der politischen Fiktion. Sie ruft Bilder hervor, die eher aus der Verwaltungssprache bekannt sind: Ein Staat, dessen finanzieller Spielraum ausgeschöpft ist, ausgeliefert internationalen Institutionen, während die nationale Souveränität ins Wanken gerät.
Tatsächlich entstammt der Begriff „Tutelle“ in Frankreich vor allem zwei Bereichen: dem Zivilrecht, wo er den Schutz von Minderjährigen oder nicht handlungsfähigen Erwachsenen beschreibt, und dem Verwaltungsrecht, wo er eine hierarchische Aufsicht einer staatlichen Behörde über nachgeordnete Einrichtungen meint. Überträgt man dieses Konzept aber auf einen souveränen Staat, so offenbart sich sofort seine juristische Leere. Weder im Völkerrecht noch in europäischen Verträgen existiert ein Mechanismus, der es erlaubte, ein Gründungsmitglied der EU, ein Mitglied des G7 und des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, unter eine solche Fremdverwaltung zu stellen.
Der fiskalische Druck als Nährboden der Metapher
Der Anlass, weshalb der Begriff dennoch Konjunktur hat, ist die wachsende Besorgnis über die französische Staatsverschuldung. Mit einer Schuldenquote von über 110 % des BIP gehört Frankreich inzwischen zu den am höchsten verschuldeten Ländern der Eurozone. Das Defizit wird für 2025 auf etwa 5 % prognostiziert – deutlich über der Maastricht-Grenze. Vor diesem Hintergrund warnte Pierre-Olivier Gourinchas, Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), Frankreich müsse „erhebliche Anstrengungen“ unternehmen, um seine Haushaltslage zu stabilisieren.
Konservative Medien wie The European Conservative griffen dies auf und sprachen von einer möglichen „Tutelle financière“ durch den IWF. Die Formulierung erinnert an die Jahre der Eurokrise, als Griechenland, Portugal oder Irland unter den Auflagen der „Troika“ – EU-Kommission, Europäische Zentralbank und IWF – ihre Haushaltspolitik weitgehend fremdbestimmt betreiben mussten.
Doch die Parallele hat Grenzen. Griechenland war in einer existenziellen Liquiditätskrise gefangen, abgeschnitten von den Kapitalmärkten und auf Hilfsprogramme angewiesen. Frankreich hingegen verfügt über den Status einer großen Volkswirtschaft mit eigener industrieller Basis, Zugang zu Kapitalmärkten und der Fähigkeit, Refinanzierungskosten durch seine Rolle im Euro-Raum zu dämpfen.
Märkte, Ratings und Brüssel – reale, aber indirekte Zwänge
Die Rede von einer „Tutelle“ gewinnt jedoch dort Plausibilität, wo sich Politik und Märkte überschneiden. Internationale Ratingagenturen wie Moody’s oder S&P bewerten französische Anleihen regelmäßig und beeinflussen damit die Kosten der Staatsfinanzierung. Eine Herabstufung kann milliardenschwere Folgen haben. Auch die EU-Kommission kontrolliert über das Defizitverfahren die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, dessen Reform im Frühjahr 2024 verabschiedet wurde.
Le Monde sprach bereits vor Jahren von einer „tutelle financière“ Frankreichs, allerdings im übertragenen Sinn: Gemeint war die wachsende Abhängigkeit politischer Entscheidungen von Finanzmärkten und supranationalen Institutionen. Es handelt sich um einen Diskurs, der die Autonomie der nationalen Politik in Zweifel zieht, ohne dass daraus eine formale Fremdverwaltung resultierte.
Souveränität im 21. Jahrhundert – eine Frage der Interpretation
Die eigentliche Debatte dreht sich weniger um juristische Kategorien als um das politische Selbstverständnis Frankreichs. Seit General de Gaulle versteht sich die französische Republik als souveräne Großmacht, die in Europa eine Führungsrolle beansprucht. Doch die Realität des globalisierten Finanzkapitalismus, der europäischen Haushaltsregeln und der wachsenden Verschuldung schränkt den Handlungsspielraum erheblich ein.
Insofern beschreibt die Metapher der „Tutelle“ einen Verlust an Selbstbestimmung, der faktisch durch Abhängigkeiten von Investoren, Institutionen und Märkten erzeugt wird. Diese Abhängigkeiten sind keine formelle Fremdherrschaft, wohl aber eine Machtasymmetrie, die politische Spielräume einengt.
Ein rhetorisches Bild mit politischer Schlagkraft
Die Frage, ob Frankreich „unter Tutelle“ steht, ist daher weniger juristisch als politisch relevant. Sie fungiert als einprägsames Narrativ in der innenpolitischen Auseinandersetzung: Linke Kritiker verweisen auf die „Diktatur der Märkte“, rechte Stimmen sprechen von der „Unterwerfung unter Brüssel“. In beiden Fällen steht der Begriff für den Verdacht, dass demokratisch gewählte Regierungen nicht mehr frei über die nationale Budgetpolitik entscheiden können.
Damit erfüllt die Formel eine doppelte Funktion: Sie mobilisiert politisch, zugleich verschleiert sie aber die Tatsache, dass Frankreich trotz hoher Verschuldung nicht mit den strukturellen Abhängigkeiten eines Griechenlands 2010 konfrontiert ist. Es bleibt eine Metapher – kraftvoll, aber irreführend, wenn sie als juristische Realität missverstanden wird.
Am Ende ist die Rede von einer „Tutelle“ Ausdruck einer tiefer liegenden Sorge: jener über den Verlust budgetärer Souveränität in einer Welt, in der Staaten mit hohen Schulden immer stärker unter Beobachtung stehen. Frankreich bleibt eine souveräne Macht, doch sein fiskalischer Spielraum ist enger, als es die politische Rhetorik in Paris oft glauben machen will.
Autor: Andreas M. Brucker
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