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61 Milliarden Euro – diese Zahl knallt wie ein Silvesterböller. Angeblich soll die Bekämpfung der Luftverschmutzung in der Île-de-France in den vergangenen zehn Jahren so viel Geld eingespart haben. Eine Zahl, die wie ein Pokal herumgereicht wird, um zu zeigen: Das Durchatmen in Paris lohnt sich auch finanziell. Doch wie belastbar ist diese Aussage wirklich?

Denn je genauer man hinsieht, desto mehr verschwimmt die Grundlage dieser Behauptung. Weder Airparif, das maßgebliche Mess- und Analyseinstitut, noch offizielle Gesundheitsbehörden haben eine solche Summe öffentlich beziffert. Keine Pressemitteilung, keine Studie, kein Jahresbericht nennt exakt diese 61 Milliarden.

Was sicher belegt ist

Fest steht: Luftverschmutzung verursacht gigantische Kosten. Allein die vorzeitigen Todesfälle in Frankreich werden auf rund 48 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. Für die Île-de-France liegen die Schätzungen bei etwa 28 Milliarden Euro jährlich – und zwar dauerhaft, Jahr für Jahr. Diese Summen stammen aus anerkannten Analysen von Airparif und werden auch von großen Medien zitiert.

Ebenfalls gesichert: Die Luftqualität hat sich in der Region spürbar verbessert. Zwischen 2005 und 2024 sanken die Feinstaubwerte (PM₂,₅) um 55 Prozent, die Stickoxidwerte (NO₂) halbierten sich. Weniger Schadstoffe in der Luft bedeuten weniger Krankheitsfälle, weniger Krankenhausaufenthalte, weniger verlorene Arbeitstage – und damit volkswirtschaftlich handfeste Vorteile.

Woher könnte die Zahl kommen?

Die 61 Milliarden wirken auf den ersten Blick also nicht völlig abwegig. Wenn die Region jährlich 28 Milliarden Euro an gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schäden durch Luftverschmutzung erleidet, ergibt sich über zehn Jahre ein astronomischer Betrag. Kombiniert man das mit den dokumentierten Verbesserungen, könnte ein findiger Rechenkünstler durchaus auf „Einsparungen“ in zweistelliger Milliardenhöhe kommen.

Doch das Problem liegt im Detail: Solche Kalkulationen hängen stark von Annahmen ab. Welche Schadstoffe wurden berücksichtigt? Wie hoch bewertet man ein vermiedenes Todesfallrisiko? Über welchen Zeitraum? Und rechnet man mögliche Kosten der Umstellung – etwa für strengere Abgasnormen oder Gebäudesanierungen – gegenzu? Ohne transparente Grundlage bleibt die 61-Milliarden-Behauptung vor allem eine knackige Schlagzeile.

Die Mechanik hinter den „Einsparungen“

Um besser zu verstehen, was hinter solchen Summen steckt, lohnt sich ein Blick auf die ökonomische Logik:

  1. Weniger vorzeitige Todesfälle – Die gesparte Lebenszeit wird mit der „statistischen Lebenserwartung“ bewertet. Klingt zynisch, ist aber Standard in Kosten-Nutzen-Analysen.
  2. Reduzierte Krankheitslast – Asthmaanfälle, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Lungenkrebs: Jedes vermiedene Leiden bedeutet weniger Arztbesuche, weniger Medikamente, weniger Arbeitsausfälle.
  3. Mehr Produktivität – Gesunde Menschen fehlen seltener im Job und leisten mehr. Auch das geht in die volkswirtschaftliche Rechnung ein.
  4. Indirekte Effekte – Von saubereren Fassaden bis zu stabileren Ernteerträgen: Weniger Luftschadstoffe sparen Kosten weit über das Gesundheitssystem hinaus.
  5. Synergien mit Klimaschutz – Maßnahmen wie bessere Isolierung von Gebäuden oder der Ausbau von Radwegen wirken doppelt: Sie verbessern die Luft und senken die CO₂-Emissionen.

All diese Kanäle zusammen ergeben den Eindruck enormer ökonomischer „Gewinne“. Doch eben nur dann, wenn man alle positiven Seiten summiert – und nicht die komplexen Kosten der Umstellung gegensetzt.

Erfolge und Stolpersteine der französischen Strategie

Die positiven Seiten

Die Erfolge in der Luftreinhaltung sind unübersehbar: Weniger Schadstoffe, längere Lebenserwartung, weniger Krankenhauseinweisungen. Regionale Programme wie „Un Nouvel Air pour l’Île-de-France“ treiben zusätzlich die Verkehrswende voran: E-Bikes, emissionsarme Zonen, Gebäudesanierungen.

Aber auch die Grenzen

Trotzdem bleibt einiges ungelöst. Ozon am Boden etwa ist schwer in den Griff zu bekommen, zumal es durch den Klimawandel noch verstärkt wird. Und die neuen, strengeren EU-Grenzwerte zwingen die Region, ihre Anstrengungen noch einmal deutlich zu steigern. Auch finanziell knirscht es: Kürzungen bei den Budgets für Airparif zeigen, dass die Prioritäten nicht immer stabil sind. Und natürlich trifft die Luftverschmutzung die Menschen nicht gleich: Wer am Périphérique wohnt, atmet weiterhin deutlich schlechtere Luft ein als Bewohner ruhigerer Viertel.

Und jetzt?

Die 61 Milliarden sind ein eindrucksvoller Marker – mehr Symbol als harte Zahl. Aber sie lenken die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche: Saubere Luft ist nicht nur eine Frage der Gesundheit oder der Umwelt, sie ist ein handfester wirtschaftlicher Faktor.

Man könnte also fragen: Selbst wenn die genaue Rechnung nicht stimmt – ist das Signal nicht trotzdem wertvoll? Schließlich erinnern solche Zahlen daran, dass Investitionen in Umweltpolitik nicht einfach Kosten verursachen, sondern langfristig Rendite für die Gesellschaft bringen.

Fazit

Der Kampf gegen die Luftverschmutzung in Paris und der Île-de-France hat tatsächlich Milliarden eingespart – das ist unbestritten. Aber ob es genau 61 Milliarden waren? Wahrscheinlich ist die Zahl eher ein PR-tauglicher Richtwert als das Ergebnis einer transparenten Studie. Was bleibt: Wer in saubere Luft investiert, gewinnt auf allen Ebenen – Gesundheit, Lebensqualität, wirtschaftliche Stärke. Und das lässt sich, auch ohne exakten Taschenrechner, leicht begreifen.

Autor: Daniel Ivers

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