„On ne peut pas être Premier ministre quand les conditions ne sont pas réunies“ – man kann nicht Premierminister sein, wenn die Bedingungen nicht erfüllt sind. Der Satz wirkt zunächst wie eine schlichte Feststellung politischer Zweckmäßigkeit. Doch in Zeiten institutioneller Unsicherheit erhält er eine tiefere Bedeutung: Was sind eigentlich die „Bedingungen“ für eine Regierung? Und wer entscheidet, ob sie erfüllt sind? Ein Blick auf das gegenwärtige Frankreich und die historische Weimarer Republik zeigt, wie eng politische Legitimität an stabile Mehrheiten, institutionelle Kultur und strategisches Kalkül geknüpft ist.
Die Fünfte Republik am Rand der Handlungsunfähigkeit
Die französische Verfassung verleiht dem Präsidenten große Befugnisse. Er ernennt den Premierminister – formell ohne Rücksicht auf das Parlament. Doch in der politischen Praxis ist dieses Recht längst eingebettet in ein Geflecht unausgesprochener Regeln: Ein Premierminister muss regierungsfähig sein, muss ein Programm durchbringen, Gesetze einbringen, Mehrheiten organisieren können. All das setzt voraus, dass das Parlament ihn zumindest duldet – besser: unterstützt. Wenn diese Voraussetzungen fehlen, nützt auch der Rückhalt im Élysée wenig.
Seit den letzten Parlamentswahlen ist genau das der Fall. Keine der politischen Blöcke verfügt über eine klare Mehrheit. Die Nationalversammlung ist zersplittert, das Vertrauen zwischen den Fraktionen gering. Der Präsident muss Premierminister ernennen, die im besten Fall Kompromisse zwischen diametral entgegengesetzten Lagern aushandeln – oder im schlechtesten Fall bereits am ersten Haushaltsentwurf scheitern.
Die politische Folge ist eine Serie kurzer, instabiler Regierungen. Premierminister treten ab, bevor sie ihr Programm vorstellen können. Andere verweigern gleich ganz die Amtsübernahme – mit Verweis auf „nicht erfüllte Bedingungen“. Der Satz wird so zur realpolitischen Selbstdiagnose. Denn auch wenn die Verfassung keine Vertrauensabstimmung verlangt: In der Realität entscheidet das Parlament über die Lebensdauer jeder Regierung. Und eine Regierung, die keine Gesetze mehr durchbekommt, ist keine.
Zwar existieren verfassungsrechtliche Auswege – etwa das berühmte Instrument Artikel 49.3, das es erlaubt, Gesetze ohne Abstimmung zu verabschieden. Doch jedes Mal, wenn die Exekutive zu solchen Mitteln greift, verliert sie ein Stück politische Autorität. Der Ausnahmezustand wird zur Normalität – ein gefährliches Spiel, wenn man die Geschichte Europas kennt.
Weimar: Wenn Institutionen nicht tragen
Die Weimarer Republik kannte keine präsidentielle Exekutive französischen Zuschnitts, wohl aber ähnliche Dilemmata. Auch dort konnte der Reichspräsident den Reichskanzler ernennen, formal ohne Zustimmung des Parlaments. Aber ein Kanzler ohne parlamentarische Mehrheit war politisch ohnmächtig. Er konnte nicht regieren – oder nur mithilfe von Notverordnungen, wenn er auf das Vertrauen des Reichstags verzichten musste.
Zwischen 1919 und 1933 sah Weimar eine Flut kurzlebiger Kabinette. Der Grund: ein zersplittertes Parteiensystem, fragile Koalitionen, tiefe gesellschaftliche Gräben. Regierungen standen unter ständigem Druck, wurden gestürzt, traten zurück oder verloren schlicht ihre Handlungsfähigkeit. Auch hier wurde oft versucht, durch präsidentielle Notverordnungen weiterzuregieren – an der parlamentarischen Realität vorbei. Was als Ausnahme gedacht war, wurde zur Regel. Die Konsequenz war eine schleichende Aushöhlung demokratischer Legitimität.
Die Kanzler der späten Weimarer Jahre – Brüning, Papen, Schleicher – regierten alle ohne parlamentarische Mehrheit, gestützt allein auf den Reichspräsidenten. Formell im Amt, praktisch isoliert, politisch zusehends delegitimiert. Und doch hielten sie sich – bis schließlich die Republik selbst scheiterte.
Weimar zeigt, was geschieht, wenn die institutionelle Balance zwischen Exekutive und Legislative kippt. Wenn Regierungen existieren, aber nicht mehr regieren. Wenn „die Bedingungen“ nicht erfüllt sind – und es dennoch niemanden gibt, der das ausspricht. Der Weg ins Autoritäre beginnt nicht mit einem Putsch, sondern mit einem schleichenden Verlust parlamentarischer Realität.
Regieren als Balanceakt zwischen Verfassung und Vertrauen
Was lässt sich aus diesem Vergleich ziehen? Zunächst: In beiden Systemen ist die Regierungsfähigkeit nicht allein eine Frage der Verfassung. Sondern eine Frage der politischen Kultur, der Koalitionsfähigkeit, des Vertrauens. Regieren setzt voraus, dass ein Regierungschef nicht nur ernannt wird, sondern auch durchsetzen kann. Die Fähigkeit, Mehrheiten zu organisieren, ist nicht bloß taktisches Geschick – sie ist die Grundlage jeder politischen Autorität.
In Frankreich wie in Weimar gilt: Der Verfassungstext allein garantiert keine Stabilität. Wer sich allein auf formale Rechte beruft, riskiert den Verlust realer Handlungsmacht. Eine Exekutive, die ohne parlamentarischen Rückhalt agiert, mag kurzfristig funktionieren – langfristig führt sie in eine politische Sackgasse. Und mit jeder Krise, mit jeder Regierung, die scheitert, wächst das Misstrauen in das System selbst.
Doch der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Republiken liegt in der institutionellen Resilienz. Frankreich verfügt über ein gefestigtes republikanisches Selbstverständnis, über ein Bewusstsein für die Grenzen exekutiver Macht – und über eine Zivilgesellschaft, die auf autoritäre Tendenzen sensibel reagiert. Weimar hatte das nicht. Dort traf institutionelle Schwäche auf gesellschaftliche Radikalisierung – ein gefährlicher Cocktail.
Wenn also heute französische Politiker erklären, sie könnten unter den gegebenen Bedingungen kein Regierungsamt übernehmen, dann ist das kein Zeichen von Schwäche. Es ist – zumindest im besten Fall – ein Ausdruck politischer Klarsicht. Eine Regierung, die keine Mehrheit hat, ist nicht nur ineffektiv. Sie gefährdet die Legitimität des gesamten Systems.
Und das lehrt uns auch die Geschichte: „Premierminister“ oder „Kanzler“ ist kein Titel, den man allein durch Ernennung trägt. Es ist ein Amt, das sich im täglichen politischen Handeln bewähren muss. Ohne Unterstützung, ohne Zustimmung, ohne die Fähigkeit zum Kompromiss – bleibt nur der Rücktritt. Oder der Weg in die Irre.
Autor: Andreas M. Brucker
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