Tag & Nacht




Ein politisches Paradox beschäftigt derzeit die französische Innenpolitik: eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung lehnt Neuwahlen ab – doch daraus leiten manche bereits den Anspruch ab, eine Regierung auf dieser Basis bilden zu können. Dieser rhetorische Kurzschluss offenbart nicht nur das Ausmass institutioneller Unsicherheit, sondern auch das strukturelle Dilemma der Fünften Republik: Ein «Nein» zum Wählervotum ersetzt kein politisches Mandat.

Tatsächlich eint die ablehnende Haltung zur Auflösung des Parlaments ein breites Spektrum von Abgeordneten. Der Grundkonsens ist negativ – man will keinen Wahlgang, keine Unruhe, keine neue Dynamik. Doch was bleibt, ist ein ideologisch zersplittertes Parlament, das sich weder auf einen Regierungsauftrag noch auf ein gemeinsames politisches Projekt verständigen kann.


Vom Verhindern zum Gestalten – ein weiter Weg

Der Versuch, aus der Ablehnung der Auflösung eine Legitimation zur Regierungsbildung abzuleiten, ist institutionell fragwürdig und politisch riskant. Eine solche «Mehrheit des Refus» ist per definitionem reaktiv, nicht konzeptionell. Sie kann ein Vakuum füllen, aber keine Reform tragen.

Frankreichs politische Architektur beruht auf der klaren Trennung zwischen Exekutive und Legislative – verbunden durch die Erwartung, dass eine Regierung zumindest auf eine stabile Mehrheit zählen kann, sei es durch Zustimmung oder durch Duldung. Wer in diesem System Verantwortung übernimmt, benötigt ein Minimum an Kohärenz, Disziplin und Gestaltungswillen. All das fehlt einer Koalition, die einzig durch das Motiv des Vermeidens zusammengehalten wird.


Institutionelle Instrumente ersetzen keine politische Autorität

Gewiss, die Verfassung bietet der Exekutive gewisse Mittel zur Notverwaltung. Der berühmte Artikel 49.3 erlaubt es einem Premierminister, Gesetze auch gegen eine widerspenstige Mehrheit durchzusetzen – vorausgesetzt, keine konstruktive Mehrheit findet sich zur Abwahl der Regierung. Doch dieses Verfahren ist ein Zeichen der Schwäche, kein Ausweis von Stabilität. Jeder Gebrauch unterstreicht, dass es an politischer Autorität mangelt.

Hinzu kommt, dass Frankreich keine gewachsene Koalitionskultur kennt. Die republikanische Ordnung ist auf klare Mehrheitsverhältnisse ausgelegt – nicht auf das mühselige Aushandeln von Kompromissen zwischen moderaten Kräften. Eine breite Regierung der Mitte mag in anderen Demokratien funktionieren. In Paris wirkt sie schnell wie ein technokratisches Notgebilde, das allen verpflichtet ist und niemandem Rechenschaft schuldet.


Die Versuchung des Stillstands

In der derzeitigen Lage drängt sich der Eindruck auf, dass viele Abgeordnete das geringste Risiko suchen – und damit das grösste eingehen. Wer das politische System lediglich vor dem Kontrollverlust bewahren will, opfert über kurz oder lang seine Handlungsfähigkeit. Der Verzicht auf Neuwahlen mag kurzfristig rational erscheinen, doch er konserviert ein Kräfteverhältnis, das längst keine konstruktive Basis mehr bietet.

Gerade in Zeiten ökonomischer Unsicherheit, geopolitischer Spannungen und gesellschaftlicher Polarisierung braucht es mehr als ein Verharren im Provisorium. Es braucht Regierungen, die legitimiert sind – durch ein klares Mandat, ein erkennbares Programm und die Fähigkeit, Mehrheiten zu organisieren. Frankreich verfügt über starke Institutionen. Doch sie nützen wenig, wenn der politische Wille zur Führung fehlt.


Was bleibt

Ein Nein zur Auflösung ist kein Ja zur Verantwortung. Eine Mehrheit des Refus ersetzt keine Regierung, sie vertagt nur die Krise. Der Präsident kann versuchen, daraus ein Exekutivprojekt zu formen – doch er würde auf Treibsand bauen. Wer in einem zersplitterten Parlament regieren will, muss Mehrheiten nicht nur zählen, sondern auch zusammenhalten. Andernfalls droht nicht nur die nächste Regierungskrise, sondern ein fataler Vertrauensverlust in die politische Ordnung.

Autor: P. Tiko

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