Fünf Tage nach dem abrupten Rücktritt seines Premiers hat Emmanuel Macron seinen Vertrauten Sébastien Lecornu erneut zum französischen Premierminister ernannt. Eine Entscheidung, die weniger Stärke als vielmehr strategisches Kalkül offenbart – und Frankreich in eine neue Phase politischer Ungewissheit führt.
Die Rückkehr Lecornus markiert einen ungewöhnlichen Vorgang in der Fünften Republik. Kaum im Amt, war sein erstes Kabinett nach wenigen Stunden durch politischen Druck zum Rücktritt gezwungen worden. Dass Macron ausgerechnet diesen Premier erneut betraut, wirft Fragen auf – über die Handlungsfähigkeit des Präsidenten ebenso wie über den Zustand des politischen Systems.
Ein Premierminister auf Abruf
Sébastien Lecornu war erst am 9. September zum Premierminister ernannt worden, als Nachfolger des zurückgetretenen François Bayrou. Das von ihm am 5. Oktober vorgestellte Kabinett wurde jedoch faktisch nie arbeitsfähig: Bereits am Folgetag reichte Lecornu seinen Rücktritt ein, nachdem zentrale Reformvorhaben – insbesondere zur Finanz- und Rentenpolitik – auf massiven Widerstand gestoßen waren. Innerhalb von 14 Stunden war die Regierung Geschichte – ein beispielloser Vorgang in der jüngeren französischen Geschichte.
Macron sah sich unter Zugzwang. Die politische Mitte ist geschwächt, die Lager zersplittert, die Oppositionsparteien stellen Maximalforderungen. Der Präsident entschied sich daher für Kontinuität – wohl weniger aus Überzeugung als mangels Alternativen.
Kalkül statt Konsens
Die Wiederernennung Lecornus ist Ausdruck einer doppelten Strategie: Macron will Stabilität demonstrieren, ohne die Kontrolle über das politische Zentrum zu verlieren. Lecornu gilt als loyal, durchsetzungsfähig, verwaltungserfahren – Eigenschaften, die Macron in der gegenwärtigen Lage höher zu bewerten scheint als parteiübergreifende Anschlussfähigkeit.
Doch diese Strategie ist riskant. Bereits unmittelbar nach der Bekanntgabe regte sich Widerstand: Die Parti Socialiste kündigte an, eine Misstrauensabstimmung zu unterstützen, sollte die Regierung weiterhin am Einsatz des Artikels 49-3 festhalten – jenem verfassungsrechtlichen Instrument, mit dem Gesetze ohne Parlamentsabstimmung durchgesetzt werden können. Auch die linkspopulistische Partei La France Insoumise und der rechtspopulistische Rassemblement National signalisierten Ablehnung.
Ein enges Zeitfenster für politische Handlungsfähigkeit
Im Zentrum der aktuellen politischen Auseinandersetzung steht das Haushaltsgesetz für 2026. Frankreichs Finanzlage ist angespannt: Die EU-Kommission fordert mehr fiskalische Disziplin, die Zinsen für französische Staatsanleihen steigen, das Defizit liegt bei rund 5 % des BIP. Lecornu muss nun binnen weniger Wochen eine parlamentarische Mehrheit für das Budget finden – oder erneut auf Artikel 49-3 zurückgreifen, was die institutionelle Krise verschärfen würde.
Gleichzeitig droht eine politische Implosion von innen: Sollte eine erneute Misstrauensabstimmung erfolgreich sein, bliebe Macron nur die Auflösung der Nationalversammlung oder die Berufung einer parteilosen Expertenregierung – Szenarien, die er bislang vermeiden wollte.
Zwischen Systemkrise und politischer Taktik
Die Entscheidung für Lecornu lässt sich auch als Versuch lesen, Zeit zu gewinnen. Macron steht unter wachsendem Druck: außenpolitisch durch internationale Krisen, innenpolitisch durch eine fragmentierte Nationalversammlung, sozial durch anhaltende Proteste gegen den Haushaltsplan und die Rentenreform. In dieser Lage setzt der Präsident auf das Prinzip der Loyalität statt auf den schwierigen Weg eines parteiübergreifenden Konsenses.
Frankreich zeigt sich damit erneut als Präsidialdemokratie im Ausnahmezustand. Der Premier ist nicht Ergebnis parlamentarischer Mehrheiten, sondern Ausdruck präsidialer Machtlogik. Doch ob sich diese Strategie gegen die strukturelle Erosion der Regierungsfähigkeit durchsetzen kann, ist fraglich.
Sébastien Lecornu steht nun vor einer doppelten Herausforderung: Er muss regieren – und zugleich ein Minimum an politischer Glaubwürdigkeit wiederherstellen. Gelingt ihm beides nicht, droht ein neuerlicher Rücktritt. Dann wäre auch Emmanuel Macron gezwungen, seine politische Linie grundlegend zu überdenken.
Autor: P. Tiko
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