Tag & Nacht




Frankreich ringt erneut mit sich selbst. Zwei Jahre nach der Rentenreform, die Emmanuel Macron unter lautem Protest und mithilfe des berüchtigten Artikels 49.3 der französischen Verfassung durchgesetzt hat, ist das Land keinen Schritt ruhiger geworden. Die Wunden sind offen, die Fronten verhärtet. Was damals als symbolischer Beweis französischer Reformfähigkeit galt, ist heute ein Paradebeispiel für politische Erschöpfung.

Der neue Premierminister Sébastien Lecornu, von Macron als pragmatischer Krisenverwalter erneut ins Amt gehievt, verspricht Gesprächsbereitschaft. „Alles darf wieder diskutiert werden“, ließ er verlauten. Gemeint ist vor allem das Rentenalter – jener neuralgische Punkt, an dem sich Frankreichs Verhältnis zu Arbeit, Gerechtigkeit und Staatlichkeit seit Jahren entzündet.

Doch die Ankündigung klingt weniger nach Aufbruch als nach Atempause.


Reform oder Resignation?

Die Regierung hat ein Dilemma, das in Wahrheit ein politischer Teufelskreis ist.
Sie kann sich keine Rücknahme der Reform leisten – das würde die ohnehin fragile Haushaltslage weiter verschärfen. Aber sie kann auch keine neue Verschärfung riskieren – das würde die Straßen wieder füllen, die Gewerkschaften elektrisieren, das Land mal wieder lahmlegen.

Was bleibt, ist der Versuch, beides zugleich zu tun: den Anschein von Entschlossenheit zu wahren und gleichzeitig Entschärfung zu signalisieren.

Macron selbst deutete zuletzt ein „provisorisches Einfrieren“ weiterer Reformschritte an, ein Stillhalteabkommen bis zur Präsidentschaftswahl 2027. Damit würde das Rentenalter – derzeit bei 62 Jahren und einigen Monaten – vorerst nicht weiter steigen. Kein Rückschritt, kein Fortschritt. Stillstand als Strategie.


Das enge Korsett der Realität

Dafür gibt es Gründe, und sie sind nicht nur politisch.
Das französische Rentensystem ist strukturell defizitär. Die Alterung der Bevölkerung, stagnierende Wachstumszahlen und die Kosten der Energie- und Sozialpolitik lassen kaum Spielraum. Jeder Prozentpunkt mehr Rentenerhöhung oder jeder Monat früherer Renteneintritt frisst Milliarden.

Die Rentenprogression ab 60, die ab September 2025 gelten soll, und die schrittweise Verlängerung der Beitragsjahre auf 43, sind längst beschlossen. Auch die Erhöhung der Basisrenten um 2,2 Prozent zum Jahresbeginn 2025 ist eingepreist. Wer das Rad zurückdrehen wollte, müsste nicht nur Gesetze, sondern auch Haushalte neu schreiben.

Hinzu kommt das politische Terrain: Lecornu führt keine geschlossene Mehrheit, sondern eine Koalition aus Müdigkeit und Zweckrationalität. Zu weich – und er verliert die Reformer in der eigenen Mitte. Zu hart – und die Linke mobilisiert, als hätte man nichts gelernt. Über allem schwebt die Drohung eines Misstrauensvotums, die wie ein Damoklesschwert über dem Palais Matignon hängt.


Die Versuchung des „halben Rückzugs“

Frankreich hat ein Talent dafür, Kompromisse zu inszenieren, die in Wahrheit Verschiebungen sind. Auch diesmal deutet vieles darauf hin, dass der Elysée auf Zeitgewinn setzt.
Ein „gelähmter Fortschritt“ also, wie es ein politischer Beobachter nannte: der Anschein von Bewegung, ohne das Risiko eines echten Schritts.

Was wäre das Ergebnis?
Ein temporärer Reformstopp, flankiert von einigen sozialen Ausgleichsmaßnahmen: Verbesserungen für Langzeitversicherte, Mütter, Pflegeberufe; vielleicht ein paar steuerliche Gesten in Richtung der unteren Einkommensschichten. Ein Programm, das zugleich beruhigen und verschleiern soll.

Die Rentenfrage würde so nicht gelöst, sondern vertagt. Und in Frankreich ist das längst zur Methode geworden: Man verschiebt Konflikte auf den nächsten Wahlzyklus, in der Hoffnung, dass die Empörung bis dahin verpufft – oder ein anderer sie austragen muss.


Das Prinzip der symbolischen Politik

Dabei ist die Reform von 2023 im Kern nicht radikal.
Sie war ein vorsichtiger Versuch, den Generationenvertrag an die Realität des 21. Jahrhunderts anzupassen. Die meisten europäischen Länder haben ähnliche oder härtere Anpassungen längst hinter sich. Doch in Frankreich ist jede Rentenreform mehr als ein Gesetz – sie ist ein moralischer Stellvertreterkrieg um das Selbstbild der Nation:

Wer länger arbeiten soll, fühlt sich betrogen; wer zur Reform ruft, gilt als Sozialabbauer. Das Land, das sich selbst gern als Bastion des Sozialstaats versteht, erlebt die nüchterne Sprache der Demografie als Zumutung.

Das Ergebnis ist politische Symbolik statt Strukturpolitik. Man streitet über Monate, verschiebt Altersgrenzen um ein paar Monate, rettet aber weder die langfristige Finanzierbarkeit noch das Vertrauen der Bürger.

Es ist, als kämpfte Frankreich mit dem Thermometer, um das Fieber zu senken.


Ein Premier am Rand der Belastungsgrenze

Sébastien Lecornu hat angedeutet, dass er sein Amt zur erneut Verfügung stellen würde, falls die „Bedingungen“ für Reformpolitik nicht mehr gegeben seien. Der Satz wirkt nüchtern, ist aber eine Drohung. Er sagt: Wenn das Land keine Entscheidungen mehr akzeptiert, ist Regierung sinnlos.

Ein Premierminister, der so spricht, weiß, dass sein Mandat auf ganz dünnem Eis steht. In Paris weiß man: Ein erneuter Rücktritt Lecornus wäre keine Randnotiz, sondern der Startschuss für eine neue Runde institutioneller Nervosität – und ein weiterer Beweis, dass Frankreichs Regierungskunst vor allem in der Verwaltung von Krisen besteht – und an der Realität scheitert.


Frankreich bleibt eine halbe Reformnation

Vielleicht liegt in dieser Ambivalenz das eigentliche Drama der Fünften Republik.
Frankreich kann Reformen wollen, aber nicht zu Ende führen.
Es kennt die Notwendigkeit, aber fürchtet den Preis.

Das Land pendelt zwischen dem Wunsch nach Stabilität und der Sehnsucht nach Veränderung – eine Bewegung, die viel Energie erzeugt, aber keine Richtung.

Wenn Macron seine Amtszeit mit einem halbherzigen Stillstand in der Rentenfrage beendet, wäre das, so traurig es ist, nur folgerichtig: Er würde seine Präsidentschaft so beenden, wie er sie begonnen hat – als Jongleur zwischen Vernunft und Unmut, als Architekt einer Mitte, die immer neu erklären muss, warum sie nicht vorankommt.

Autor: Andreas M. Brucker

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