Es ist eine Intervention mit politischer Schärfe und ökonomischer Tiefe: Der französische Wirtschaftsnobelpreisträger Philippe Aghion fordert nach dem jüngsten Stopp der Rentenreform durch Premierminister Sébastien Lecornu nicht weniger als einen Systemwechsel. Frankreich solle sich vom starren Altersgrenzenmodell verabschieden und ein flexibleres Punktesystem einführen. Damit rührt Aghion an ein zentrales Problem des französischen Sozialmodells: Es ist strukturell überfordert, steht demographisch unter Druck – und ist politisch blockiert.
Aghion plädiert nicht für kosmetische Korrekturen, sondern für eine strukturelle Neuordnung. In einem Land, das in der Vergangenheit selbst moderate Rentenanpassungen nur unter massivem Widerstand durchsetzen konnte, wirkt dies fast provokativ. Doch die Analyse ist nüchtern: Ein System, das auf immer weniger Beitragszahlern immer mehr Rentner stützt, lässt sich nicht durch das Verschieben von Altersgrenzen dauerhaft stabilisieren. Es braucht einen Paradigmenwechsel, der Erwerbsbiografien realistischer abbildet und individuelle Anreize mit kollektiver Solidarität verbindet.
Mehr Gerechtigkeit durch mehr Transparenz?
Das von Aghion ins Spiel gebrachte Punktesystem würde das Prinzip der Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen stärken. Jede Einzahlung führt zu Punkten, die später die Höhe der Rente bestimmen – unabhängig von Alter oder Erwerbsdauer. Dieses Modell verspricht mehr Gerechtigkeit für jene, deren Lebensläufe nicht linear verlaufen, und könnte zugleich die Debatte über Sonderregime, Frühverrentung und privilegierte Berufsgruppen entpolitisieren.
Doch die Vorteile des Punktesystems – Transparenz, Flexibilität, Nachvollziehbarkeit – sind nicht umsonst zu haben. Gerade in der Übergangsphase droht ein finanzieller und administrativer Kraftakt. Der Umbau müsste über Jahre hinweg doppelt finanziert werden, bestehende Ansprüche dürften nicht gekürzt, neue Versprechen müssten glaubwürdig aufgebaut werden. Zudem verlangt das Modell eine politisch unabhängige Instanz, welche die Wertentwicklung der Punkte steuert – ein Aspekt, der in der hochzentralisierten französischen Verwaltungstradition kein Selbstläufer wäre.
Die Rückkehr des Referendums – und der Zweifel
Um eine solche Reform demokratisch abzusichern, wird nun offen über ein Referendum diskutiert. Präsident Macron, der seit Beginn seiner Amtszeit eine Rationalisierung des Sozialstaats propagiert, soll gegenüber Aghion signalisiert haben, eine Volksbefragung nicht auszuschließen. Das ist mehr als ein taktischer Schachzug. Es ist ein Eingeständnis, dass technokratische Legitimation allein nicht mehr trägt – und dass strukturelle Eingriffe nur mit breiter Akzeptanz Bestand haben können.
Gleichwohl bleibt der Zweifel, ob Frankreich – politisch tief fragmentiert, sozial gereizt – in der Lage ist, eine solche Debatte sachlich zu führen. Die Erinnerung an die Protestwellen der Jahre 2019 bis 2023 ist noch frisch. Schon damals war es eine geplante Rentenreform mit Punktelogik, die letztlich auf Eis gelegt wurde. Die Vorwürfe von „sozialer Kälte“ und „kapitalgedeckter Hintertürpolitik“ dürften auch diesmal nicht lange auf sich warten lassen.
Ein Nobelpreis ersetzt keine politische Mehrheit
Dass ein renommierter Ökonom wie Aghion das Thema wieder aufgreift, verleiht der Diskussion zwar neue Legitimität. Doch ein Nobelpreis ersetzt keine politische Mehrheit. Vielmehr droht erneut eine Polarisierung, sollte der Systemwechsel technokratisch vorangetrieben, aber gesellschaftlich nicht verankert werden. Frankreich steht vor einem Dilemma: Ohne Reform ist der Status quo finanziell nicht haltbar. Mit Reform aber droht die soziale Spaltung.
Aghions Vorschlag ist ein Weckruf, kein fertiger Fahrplan. Die Pointe liegt darin, dass er nicht auf Zahlen, sondern auf Vertrauen setzt. Vertrauen in die Fähigkeit eines Landes, sich selbst neu zu organisieren – jenseits von Klientelpolitik, Misstrauen und ideologischer Erstarrung. Ob Frankreich dazu bereit ist, bleibt offen. Aber eines ist klar: Die Zeit des Verschiebens ist vorbei.
Von Andreas Brucker
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!