Tag & Nacht


Manchmal reicht eine kurze Fahrt aus der Stadt – und man steht in einer völlig anderen Welt. Wer sich 90 Minuten östlich von Paris aufmacht, findet zwei Orte, die wie aus der Zeit gefallen wirken: das elegante Château de La Motte‑Tilly, ein klassizistisches Landhaus mit Parklandschaft, und die mittelalterliche Handelsstadt Provins mit Fachwerk, Stadtmauern und Ritterturnieren. Zwei Welten, zwei Epochen – perfekt für einen historischen Kurztrip, der mehr ist als nur Sightseeing.


Schlosszauber im Château de La Motte‑Tilly

Vom Wehrbau zur Sommerresidenz

Die Geschichte beginnt im 14. Jahrhundert mit einer „Motte“ – einer mittelalterlichen Wehranlage auf einem Felsvorsprung über der Seine. Heute steht dort ein Schlösschen aus dem 18. Jahrhundert, das vor Eleganz und Symmetrie nur so strahlt. Errichtet von einem Architekten des Klassizismus für einen späteren Finanzminister des Sonnenkönigs, ist La Motte‑Tilly das Paradebeispiel für das, was man im 18. Jahrhundert unter kultiviertem Landleben verstand.

Architektur und Gartenkunst

Das Gebäude selbst – aus Backstein und Sandstein – wirkt durchdacht und zurückhaltend. Keine übertriebenen Verzierungen, sondern klare Linien, hohe Fenster, einladende Proportionen. Drinnen: Räume voller antiker Möbel, Gemälde, Porzellan, die Einblicke in das Leben der damaligen Adligen geben. Und dann der Garten – ach, dieser Garten!

Er beginnt formell, mit geometrisch geschnittenen Hecken, breiten Achsen und einem großen Wasserbecken, das den Himmel spiegelt. Doch je weiter man sich vom Schloss entfernt, desto freier wird das Gelände. Plötzlich wirkt alles natürlicher: sanfte Wege, große Bäume, romantische Blickachsen. Der Wandel vom französischen zum englischen Stil ist deutlich spürbar – ein botanischer Zeitstrahl.

Ruhe, Reflexion – und das perfekte Licht

Das Schloss liegt auf einem sanften Plateau in einer Flussschleife – umgeben von Weite und Stille. Wer früh morgens oder am späten Nachmittag kommt, erlebt magische Lichtspiele im Park. Besonders der Wasserspiegel entfaltet dann seine ganze Poesie. Fotografen, Spaziergänger und Tagträumer kommen hier gleichermaßen auf ihre Kosten.

Ganz ehrlich: Wer braucht Versailles, wenn man hier völlige Ruhe und Geschichte ohne Menschenmassen erleben kann?


Zeitreise ins Mittelalter – Provins

Wo Kaufleute Geschichte schrieben

Knapp 20 Kilometer weiter liegt Provins – eine Stadt wie aus einem Geschichtsbuch. Hier wurde nicht höfisch gelebt, sondern gehandelt. Zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert war Provins eine der wichtigsten Messe- und Handelsstädte Europas. Händler aus Nord und Süd, Ost und West trafen sich in ihren Gassen, tauschten Waren, Sprachen, Neuigkeiten – und hin und wieder auch Intrigen.

Stadtmauern, Türme und Gassen

Wer durch die Altstadt von Provins spaziert, fühlt sich nicht wie in einer Kulisse – sondern mittendrin. Die mächtige Stadtmauer mit der imposanten Tour César wirkt noch immer wehrhaft. Man stellt sich fast automatisch vor, wie Wachen dort patrouillierten und Händler vor den Toren auf Einlass warteten.

In den Gassen reiht sich Fachwerkhaus an Fachwerkhaus, kleine Boutiquen verstecken sich hinter alten Fassaden, und die Plätze atmen das Leben von Jahrhunderten. Was besonders auffällt: Hier läuft der Alltag weiter – Bäcker, Cafés, Kinder mit Schulranzen. Kein museales Disneyland, sondern eine Stadt mit Herzschlag.

Ritter, Rosen und Reenactments

Ein echtes Spektakel ist das Mittelalterfestival im Juni – dann erwacht Provins komplett zum Leben. Ritterturniere, Gaukler, Falkner und ganze Straßenzüge im mittelalterlichen Stil ziehen Besucher in ihren Bann. Die Stadt wird zur Bühne, ohne gekünstelt zu wirken. Auch abseits dieses Großevents finden regelmäßig kleinere Aufführungen und Märkte statt.

Und wer hätte gedacht, dass Rosenprodukte zur regionalen Spezialität gehören? Rosenmarmelade, Rosenhonig oder Rosenseife – kleine Mitbringsel mit echtem Lokalkolorit.


Der perfekte Kultur‑Doppelschlag

Warum sich die Kombination von La Motte‑Tilly und Provins so sehr lohnt? Weil sie wie zwei Seiten derselben Medaille wirken – Frankreich in all seiner Vielfalt. Auf der einen Seite das ruhige, gepflegte Schlossleben der Aufklärung, auf der anderen das geschäftige, bunte Treiben des Mittelalters.

Beide Orte sind nah beieinander, beide lassen sich an einem Tag erleben – besser aber an einem Wochenende mit Übernachtung in der Region. So bleibt Zeit, auch abends durch die leeren Gassen von Provins zu schlendern oder am frühen Morgen die ersten Sonnenstrahlen auf dem Schlosspark einzufangen.

Ein Mietwagen ist praktisch, aber mit etwas Planung geht es auch per Bahn und Bus. Wer früh startet, kann sich beide Welten entspannt erschließen.


Routen‑Empfehlung für Ihren Besuch

Morgens: Start in Paris, etwa 1,5 Stunden Fahrt zum Château de La Motte‑Tilly. Zeit für eine Führung und einen Spaziergang durch den Park. Tipp: Ein kleines Picknick im Garten!

Nachmittags: Weiterfahrt nach Provins – dort reicht ein halber Tag für die wichtigsten Highlights, besonders wenn Sie auf den Tour César steigen und ein wenig durch die Altstadt bummeln.

Abends: Wer bleiben möchte, findet in Provins charmante Gästehäuser und Hotels. Ideal für ein Abendessen in mittelalterlicher Atmosphäre.

Bonus-Tipp: Frühling und Herbst bieten bestes Licht und moderate Temperaturen – und der Besuchermagnet Sommer lässt sich so charmant umgehen.


Ein letztes Wort

Ob stille Gärten oder lebendige Altstadt, klassizistische Klarheit oder mittelalterliche Vitalität – diese Tour bringt Gegensätze zusammen, die sich perfekt ergänzen. Zwei Orte, zwei Welten, eine Reise: Wer sich darauf einlässt, nimmt nicht nur schöne Bilder mit nach Hause – sondern auch ein Gespür für die Tiefe französischer Geschichte.

Ein Reisebericht von V.O.Yager

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!