Tag & Nacht


Ein Land, das einst stolz war auf seine Flüsse, seine weiten Ebenen und schneebedeckten Gipfel, blickt heute mit Sorge in trockene Flussbetten und auf rissige Böden. Frankreich steckt mitten in einer Wasserkrise, die sich leise, aber unaufhaltsam durch das Land frisst.

Wer in diesen Wochen durch den Norden fährt, sieht es sofort: abgeblühte Wiesen, leere Brunnen, gedämpftes Grün, das unter der Sonne flimmert. Und im Süden, wo Olivenbäume seit Jahrhunderten tiefe Wurzeln ins Gestein graben, trocknen selbst uralte Haine langsam aus.

„Früher hatten wir hier im Mai noch genug Regen“, erzählt Jean-Luc, ein Landwirt aus der Provence. „Jetzt ist der Boden schon im April so hart, dass der Pflug kaum hineingeht.“
Er schüttelt den Kopf, wischt sich den Staub von der Stirn – dann lacht er leise, als wolle er die Sorge wegwischen. „Wir lernen, mit weniger zu leben. Aber irgendwann ist weniger eben nichts mehr.“


Der Winter, der keiner war

Das Dilemma begann schon im vergangenen Winter: kaum Schnee in den Alpen, wenig Regen im Norden, trockene Böden, wo sonst im Februar Pfützen spiegeln. Eine Folge des Klimawandels? Ohne Zweifel. Aber auch das Ergebnis jahrzehntelanger Übernutzung der Wasserressourcen.

In der Île-de-France stieg die Durchschnittstemperatur seit 1990 um zwei Grad. Klingt wenig – aber die Bodenfeuchte fiel um fünf Prozent. Das ist, als würde dem Land unbemerkt ein ganzer Fluss verdunsten.

Die französische Geologiebehörde BRGM schlägt Alarm: Grundwasserleiter, die sich einst Jahr für Jahr füllten, bleiben leer. Die Aquiferen in der Picardie, im Elsass und in der Bretagne gleichen heute löchrigen Fässern, deren Inhalt nur zögerlich zurückkehrt.


Nordfrankreich – wo die Dürre im Frühling kam

In Pas-de-Calais etwa regnete es zwischen Februar und April so wenig wie seit 1959 nicht mehr. Ein Rekord, der niemanden freut. Die Bauern dort begannen schon im März, über Bewässerungsverbote zu diskutieren. Die Behörden reagierten früh: Rasen sprengen, Pools füllen, Autos waschen – alles verboten.

Claire, die in einem kleinen Dorf nahe Arras lebt, zeigt auf ihren Garten. „Ich gieße nur noch die Tomaten – und selbst das nur alle zwei Tage. Mein Nachbar hat einen Brunnen, aber der führt kaum noch Wasser.“

Das Wasser wird zum Gesprächsthema auf Dorffesten, auf Märkten, in Cafés. Früher diskutierte man über Fußball, heute über Grundwasserstände.


Der Süden – alte Sorgen, neue Wunden

In der Provence, an der Côte d’Azur, in Okzitanien – Wasser war dort nie selbstverständlich. Aber in den letzten Jahren hat sich der Mangel verschärft. Tourismus, Landwirtschaft, Stadtwachstum – alles hängt an derselben Quelle.

Ein zentrales Symbol ist der Canal de Provence, ein gigantisches Netz aus Leitungen, das Wasser über hunderte Kilometer transportiert. Er rettet die Region regelmäßig vor Engpässen – und gleichzeitig entbrennt an ihm eine Diskussion über Nachhaltigkeit.

Wie lange lässt sich Wasser noch verteilen, wenn es überall fehlt?

In der Nähe von Aix-en-Provence diskutieren Winzer, Bauern und Kommunalpolitiker über Zukunftspläne. Einer schlägt zusätzliche Speicherbecken vor, ein anderer mahnt, dass künstliche Reservoirs mehr verdunsten als speichern. „Wir brauchen weniger Technik und mehr Vernunft“, ruft jemand aus der letzten Reihe. Applaus.


Die ländliche Stille der Bretagne – und die schleichende Not

Die Bretagne, berühmt für Regen und Wind, galt lange als wasserreich. Doch selbst dort spürt man die Trockenheit. Brunnen versiegen, Quellen trocknen aus, Bäche verschwinden.

Was besonders auffällt: Die Reaktion ist oft erst da, wenn die Not schon sichtbar ist. „Wir handeln immer zu spät“, sagt eine Mitarbeiterin der Wasserbehörde in Rennes. „Wenn das Wasser knapp wird, drehen wir den Hahn zu. Aber Planen für übermorgen? Das fällt uns schwer.“

In vielen Gemeinden wird erst dann gehandelt, wenn der Pegel sinkt. Kein Wunder, dass Landwirte die Krise als etwas Unplanbares empfinden – wie eine Dürre im Kopf, die sich langsam in den Alltag frisst.


Zwischen Sparsamkeit und Struktur – Frankreichs Reaktionen

Das Land hat reagiert – und doch nicht einheitlich.

  • Verbrauchsbeschränkungen gibt es mittlerweile in über 70 Départements. Gärten dürfen nicht mehr beliebig bewässert werden, Pools bleiben leer, Autowäschen werden untersagt.
  • Preisanpassungen: Städte wie Toulouse führen gestaffelte Tarife ein. Wer im Sommer mehr Wasser nutzt, zahlt deutlich mehr.
  • Technische Maßnahmen: Neue Speicher, modernisierte Leitungen, smarte Messsysteme sollen Wasserverluste verringern.
  • Regionale Pläne, sogenannte sobriété de l’eau, setzen auf langfristige Resilienz statt nur auf Krisenbewältigung.

Doch viele Experten kritisieren: Die Maßnahmen greifen zu punktuell, zu kurzfristig.

„Wir behandeln die Symptome, nicht die Ursachen“, sagt ein Klimaforscher der École Polytechnique. „Wenn wir weiter so leben wie bisher, wird Wasser bald ein Luxusgut.“


Konflikte um das, was bleibt

Je knapper das Wasser, desto härter die Auseinandersetzungen.

In Südwestfrankreich protestieren Bauern für neue Stauseen. Umweltaktivisten sehen darin nur eine Verschiebung des Problems. Die Landwirte halten dagegen: „Ohne Speicher trocknet unsere Ernte aus.“

Ein Konflikt, der fast symbolisch für das Land steht. Landwirtschaft, Industrie, Haushalte – alle hängen an demselben Topf, aber der Topf wird immer kleiner.

In manchen Regionen hat sich das Thema bereits politisch aufgeladen. Rechte Parteien instrumentalisieren die Angst vor Wasserknappheit, linke Gruppen fordern radikale Konsumreformen. Und die Mitte? Versucht, alles zu moderieren – ein Balanceakt zwischen Ökonomie und Ökologie.


Eine Frage der Gerechtigkeit

Wem gehört das Wasser, wenn es knapp wird? Eine unbequeme, aber notwendige Frage.

In Städten wie Marseille oder Lyon können Bürgerinnen und Bürger ihren Wasserverbrauch mit digitalen Zählern überwachen. Auf dem Land aber, wo alte Leitungen das kostbare Nass versickern lassen, bleibt das Wasser ein Gemeinschaftsgut – und immer öfter ein Streitpunkt.

Ein alter Fischer aus der Camargue sagt es so: „Früher hat das Meer uns vieles genommen, heute ist es die Sonne.“

Frankreichs Gesellschaft steht in dieser Zeit vor einer neuen sozialen Herausforderung. Wenn Wasser zum Privileg wird, drohen Spannungen – zwischen Regionen, zwischen Arm und Reich, zwischen Tourismus und Landwirtschaft.


Der menschliche Blick – und eine alte Weisheit

Es gibt ein französisches Sprichwort: L’eau est la mémoire de la terre. – „Das Wasser ist das Gedächtnis der Erde.“
Was also erzählt uns dieses Gedächtnis heute?

Vielleicht, dass wir vergessen haben zuzuhören.

Wasser fließt, solange man es lässt. Aber wir haben es gestaut, umgeleitet, gechlort, verkauft. Es war bequem, bis der Komfort langsam versiegte.

In einer kleinen Gemeinde nahe Dijon hat die Bürgermeisterin ein Experiment gestartet: Die Dorfbewohner sollen ihren Wasserverbrauch öffentlich machen – als Zeichen von Transparenz und Solidarität. „Es geht nicht um Kontrolle“, sagt sie, „sondern um Bewusstsein.“
Und tatsächlich: Die Gemeinde verbraucht inzwischen 12 Prozent weniger Wasser.


Zwischen Hoffnung und Realität

Es gibt sie, die Zeichen von Wandel. Junge Landwirte, die auf Trockenfeldbau setzen. Start-ups, die Regenwasser speichern. Schulen, die über Wasserverbrauch aufklären.

Doch das Tempo ist langsam. Frankreich, das einst stolz war auf seine Ingenieurskunst, tastet sich nun mühsam an eine neue Kultur der Genügsamkeit heran.

„Sobriété“ – Nüchternheit, Sparsamkeit – nennt Emmanuel Macron das Leitprinzip seines Wasserplans. Ein schönes Wort, aber ein weiter Weg. Denn Wasserpolitik bedeutet auch, Privilegien infrage zu stellen.


Und nun?

Frankreich steht an einem Punkt, an dem es mehr braucht als kluge Pläne. Es braucht Mut – und ein neues Verhältnis zur eigenen Landschaft.

Wie lange dauert es, bis wir begreifen, dass Wasser kein Wirtschaftsgut, sondern ein Lebensgut ist?
Und wie gehen wir damit um, wenn aus Regen Hoffnung wird?

Vielleicht beginnt die Lösung dort, wo Menschen wieder anfangen, über Wasser zu sprechen – nicht als Ressource, sondern als Teil ihrer Identität.

Denn wenn man genau hinhört, rauscht das Wasser noch. Leiser, schwächer – aber es erzählt. Von Verantwortung. Von Zukunft. Von uns.

Ein Artikel von M. Legrand

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