Es gibt Orte, die sich nicht aufdrängen. Orte, die nicht mit grellen Hinweisschildern locken, sondern flüstern – leise, fast scheu. Das Périgord im Südwesten Frankreichs ist so ein Landstrich. Eine Gegend, in der Zeit nicht vergeht, sondern ruht. Und zwischen den Hügeln, die morgens vom Nebel umhüllt sind wie von einem alten Wolltuch, liegen sie: die kleinen, fast vergessenen Weindörfer, die den Duft von Erde, Holz und Geschichte in sich tragen.
Ich erinnere mich an einen Herbstmorgen in Saint-Astier. Die Luft war feucht, die Sonne noch blass, und auf dem Markt roch es nach Walnüssen, Käse und Traubenmost. Ein alter Mann mit einem weinroten Schal schenkte mir ein Glas seines „vin de pays“ ein – kräftig, warm, ein bisschen widerspenstig. „C’est pas du Bordeaux,“ sagte er schmunzelnd, „aber ehrlicher.“
Was macht diese Dörfer so besonders? Vielleicht ist es die Mischung aus Zurückhaltung und Stolz, aus Geschichte und gelebtem Alltag. Das Périgord kennt keine Hektik, keine Eile. Hier dauert das Leben länger – im besten Sinn.
Eine Landschaft wie ein Gemälde
Zwischen den Flüssen Dordogne und Isle breiten sich sanfte Hügel aus, durchzogen von Weinreben, Obstbäumen und kleinen Steinmauern. Das Licht ist weich, fast golden. Und dann, plötzlich, taucht ein Dorf auf, als wäre es aus dem Boden gewachsen: Montcaret, Saint-Méard-de-Gurçon, Saussignac. Namen, die klingen wie alte Chansons.
In Saussignac, diesem verschlafenen Ort mit kaum 400 Einwohnern, klirren am Abend die Gläser auf der Dorfterrasse. Die Winzerinnen und Winzer hier haben sich dem biologischen Weinbau verschrieben – mit Leidenschaft und oft gegen alle wirtschaftliche Vernunft. Doch wer einmal einen Sauvignon von hier probiert hat, versteht, warum sie es tun.
Geschichten aus Stein und Eichenfass
Die Häuser im Périgord sind aus hellem Kalkstein gebaut, ihre Dächer steil, mit roten Ziegeln gedeckt. Hinter vielen dieser Mauern verbergen sich kleine Chais, Keller voller Fässer, in denen der Wein langsam atmet.
Ich traf in Saint-Léon-sur-l’Isle eine Frau namens Élodie, die ihre Großeltern nie kennengelernt hatte, aber in deren altem Weingut lebt. Sie zeigte mir stolz ihre kleine Presse, die noch immer funktioniert, „weil sie nie aufgegeben hat“, wie sie sagte.
Ihr Wein? Ein stiller Rotwein, mit Aromen von Kirsche, Rauch und ein wenig Erde. Kein Etikett, keine große Marke – aber jeder Schluck eine Geschichte.
Man spürt hier die Verbundenheit der Menschen zu ihrem Boden. Die Reben sind Teil der Familie, und das Jahr wird nach der Ernte, nicht nach Kalenderwochen gezählt.
Der Klang der Stille
Manchmal, wenn man am späten Nachmittag durch die Felder wandert, hört man nur das Zirpen der Grillen und das entfernte Rauschen eines Traktors. Die Sonne senkt sich langsam, der Himmel färbt sich bernsteinfarben, und über den Dächern der kleinen Châteaux ziehen Schwalben ihre Kreise.
Man könnte glauben, hier sei die Zeit stehen geblieben. Doch ist das wirklich Stillstand – oder einfach eine andere Art, das Leben zu messen?
Wein als Gedächtnis
Die Weine des Périgord sind keine Weltstars. Sie stehen selten auf den großen Karten der Sommeliers. Aber sie sind ehrlich, unaufgeregt und tief verwurzelt. Manche schmecken nach Zwetschge, andere nach Lakritz und Pfeffer, einige nach Sommerregen auf heißem Stein.
Ein Winzer in Montravel sagte mir einmal: „Unser Wein hat keine Ambitionen. Er will nur getrunken werden – am besten mit Freunden.“ Und tatsächlich: Wer hier ein Glas hebt, tut das nicht für Prestige, sondern aus Freude.
Kleine Wunder am Wegesrand
Hinter jedem Hügel wartet eine Überraschung. Eine Kapelle, kaum größer als eine Garage. Ein verlassenes Herrenhaus, überwuchert von Efeu. Ein alter Ziehbrunnen, an dem Kinder lachend Wasser schöpfen.
Und immer wieder Wein. Kleine Parzellen, sorgsam gepflegt, mit handgeschriebenen Schildern. Es ist, als würde das Land selbst seine Handschrift tragen.
Ein Gespräch bei Sonnenuntergang
An einem Abend saß ich mit einem jungen Winzerpaar in der Nähe von Port-Sainte-Foy. Wir tranken ihren Cuvée, ein leuchtender Rosé mit einem Hauch von Himbeere. Die Sonne sank, die Grillen wurden lauter, und jemand legte leise Musik auf.
„Glaubst du, die Leute finden uns?“, fragte sie.
Er lächelte: „Wenn sie suchen, ja. Aber vielleicht ist es besser, wenn nicht zu viele kommen.“
Da war sie wieder, diese leise Melancholie, die das Périgord umweht. Die Ahnung, dass Schönheit manchmal nur dann überlebt, wenn sie nicht entdeckt wird.
Zwischen Vergangenheit und Morgen
Natürlich verändert sich auch hier vieles. Junge Familien ziehen in alte Gutshöfe, verwandeln sie in Gästehäuser, öffnen kleine Weinstuben. Es gibt Festivals, Kunstausstellungen, neue Energie.
Doch der Geist des Périgord bleibt derselbe: ein Ort der Langsamkeit, der Zuwendung, der Geduld.
Wer hierherkommt, merkt schnell, dass Genuss mehr ist als Geschmack – es ist eine Haltung.
Ein letzter Schluck
Als ich am letzten Tag meiner Reise durch das Tal der Isle fuhr, kam plötzlich Nebel auf. Die Landschaft verschwamm, und die Welt schien sich in ein Aquarell zu verwandeln. Ich hielt an, stieg aus und hörte nur das Tropfen von Tau auf den Blättern.
Im Kofferraum klirrten ein paar Flaschen aus Saussignac, Montcaret und Montravel – Erinnerungen in Glas gegossen.
Vielleicht, dachte ich, ist das Périgord gar kein Ort, den man besucht. Vielleicht ist es ein Gefühl, das bleibt.
Ein Artikel von M. Legrand
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!









