Früher war sie das große Versprechen einer sauberen Zukunft – dann das Schreckgespenst einer unbeherrschbaren Technologie. Heute klopft die Kernenergie wieder an die Tür der Politik, der Industrie, ja sogar der Gesellschaft. Nach Jahrzehnten der Skepsis erlebt sie eine Renaissance, die viele überrascht. Doch ist sie wirklich der erhoffte Heilsbringer im Kampf gegen den Klimawandel – oder nur eine glänzend polierte Illusion aus der Vergangenheit?
In Europa brodelt es. Frankreich modernisiert seine Reaktoren, Großbritannien setzt auf neue Kraftwerksprojekte, Polen und Tschechien planen den Einstieg. Selbst in Deutschland, wo man glaubte, das Kapitel endgültig geschlossen zu haben, flammen die Debatten wieder auf. Die Frage nach der Kernkraft ist zurück – laut, kontrovers, emotional.
Dabei ist die Versuchung groß. Strom aus Kernenergie stößt kaum CO₂ aus, liefert verlässlich Energie – Tag und Nacht, bei Sonne wie Schnee. Angesichts explodierender Energiepreise und drohender Versorgungsengpässe klingt das fast zu schön, um wahr zu sein. „Warum nicht wieder Kernkraft?“ fragen viele.
Und ehrlich gesagt – wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die Atomkraft zum Symbol einer möglichen Energiewende 2.0 werden könnte?
Doch da ist sie wieder, die alte Ambivalenz. Denn während die einen von einer neuen Ära der sauberen Energie träumen, erinnern sich andere an die Schattenseiten: Tschernobyl, Fukushima, die ungelöste Endlagerfrage. Der Glanz des „sauberen Atoms“ verblasst schnell, sobald man sich daran erinnert, dass radioaktiver Müll nicht in Jahrzehnten, sondern in Jahrtausenden denkt.
Ein französischer Ingenieur sagte einmal: „Die Kernkraft ist wie ein Jaguar – elegant, schnell, aber wenn du nicht aufpasst, frisst sie dich.“ Treffender lässt sich das Dilemma kaum beschreiben.
Technologisch hat sich jedoch vieles getan. Neue Reaktortypen – sogenannte Small Modular Reactors (SMR) – versprechen mehr Sicherheit, weniger Abfall, geringere Kosten. Sie sollen flexibel einsetzbar sein, auch in Kombination mit erneuerbaren Energien. Start-ups und Energie-Giganten weltweit investieren Milliarden in die Forschung. In Kanada läuft bereits ein erstes Pilotprojekt, in Finnland steht eines kurz vor der Fertigstellung.
Aber Hand aufs Herz: Ist das die Zukunft oder nur ein teurer Versuch, die Vergangenheit zu retten?
Frankreich ist dabei der wohl interessanteste Fall. Das Land war nie ganz ausgestiegen, hielt seine Reaktoren am Netz, modernisierte, investierte. Heute kommt rund zwei Drittel des französischen Stroms aus Atomenergie – und das mit vergleichsweise niedrigen Emissionen. Emmanuel Macron hat die Kernkraft zur „Achse der nationalen Energiesouveränität“ erklärt. Neue Reaktoren sollen entstehen, alte länger laufen.
Für viele Franzosen ist das weniger Ideologie als Pragmatismus. Das Land kennt die Macht der Unabhängigkeit – vor allem in Energiefragen. Stromausfälle? Selten. Importabhängigkeit? Kaum. Und während Nachbarländer über Kohle- und Gaspreise diskutieren, dreht Frankreich leise an seinen eigenen Schaltern.
Ganz anders Deutschland. Dort schaltete man 2023 die letzten Reaktoren ab – mit Applaus, aber auch mit einem bitteren Nachgeschmack. Kaum war der letzte Brennstab gezogen, stiegen die Strompreise, und der Ruf nach Versorgungssicherheit wurde lauter. Inzwischen fragen sich manche, ob der Ausstieg zu radikal war.
Doch zurückdrehen lässt sich das Rad kaum. Die Anlagen sind stillgelegt, die Gesellschaft tief gespalten. Die einen nennen die Renaissance der Kernkraft „einen gefährlichen Rückfall“, die anderen „eine vernünftige Reaktion auf die Realität“.
Was dabei oft untergeht: Kernkraft allein löst keine Energiekrise. Sie kann Teil eines Systems sein, aber kein Ersatz für alles. Der Aufbau neuer Reaktoren dauert Jahre, oft Jahrzehnte. Die Kosten sind immens, die politischen Hürden hoch. Selbst wenn morgen der Startschuss fiele – die Wirkung käme frühestens in den 2040ern.
Dazu kommt die ungelöste Entsorgungsfrage. In Deutschland sucht man seit Jahrzehnten nach einem Endlager. In Finnland wurde eines gefunden – tief im Granit, sicher, teuer, einzigartig. Aber kann man solche Projekte weltweit umsetzen? Und wer will freiwillig neben einem Endlager wohnen?
Die Kernkraft spaltet, im wahrsten Sinne des Wortes – Atome und Meinungen.
Doch sie bietet auch Chancen, wenn man sie realistisch betrachtet: als Technologie, nicht als Ideologie. Vielleicht liegt die Wahrheit, wie so oft, irgendwo dazwischen. Weder Heilsbringer noch Dämon, sondern ein Werkzeug – gefährlich, wenn falsch benutzt, mächtig, wenn klug eingesetzt.
Ein Blick in die Zukunft: Was passiert, wenn die SMRs tatsächlich halten, was sie versprechen? Dann könnten sie helfen, Netze zu stabilisieren, ländliche Regionen zu versorgen, sogar industrielle Prozesse zu dekarbonisieren. Eine Art „Atomkraft light“. Klingt verlockend – aber ist die Welt bereit, ihr wieder zu vertrauen?
Ein Satz aus der alten Energiepolitik klingt plötzlich wieder aktuell: „Sicherheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess.“
Vielleicht liegt genau darin die Lehre dieser Renaissance: Die Kernkraft kann eine Brücke sein, aber keine Brücke ohne Geländer.
Und dann ist da noch die Frage, die keiner gern stellt: Können wir uns leisten, sie nicht zu nutzen? Wenn die Temperaturen steigen, Ressourcen knapper werden und Energie zur Währung des 21. Jahrhunderts wird – sind wir dann nicht gezwungen, alle Optionen auf den Tisch zu legen, auch die unbequemen?
Vielleicht brauchen wir eine neue Ehrlichkeit in der Debatte. Weg vom Schwarz-Weiß, hin zu einem pragmatischen Grau.
Denn weder Wind noch Sonne noch Atom allein werden die Welt retten. Aber gemeinsam, in einem ausgewogenen Mix, könnten sie das schaffen, was bisher nie gelang: stabile Energie, saubere Luft, eine Zukunft ohne fossile Abhängigkeit.
Am Ende bleibt die Kernkraft das, was sie immer war: ein Spiegel unserer eigenen Ambivalenz.
Sie zeigt, wie sehr Fortschritt und Risiko, Hoffnung und Angst, Vernunft und Emotion in uns verwoben sind. Die Entscheidung über ihre Zukunft ist keine technische – sie ist eine zutiefst menschliche.
Ein Artikel von M. Legrand
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