Warum Europas Politik Mitschuld trägt, wenn Migranten im Ärmelkanal ertrinken
Es sind immer die gleichen Bilder. Ein überfülltes Boot, Dunkelheit, Salzwasser, Schreie – dann Stille. Irgendwo im Ärmelkanal, im Grenzgebiet zwischen Hoffnung und Untergang, sterben immer wieder Menschen. Sieben Migranten verloren im Juli 2023 ihr Leben bei dem Versuch, das ersehnte Ufer Großbritanniens zu erreichen. Nun sitzen neun Männer in Paris auf der Anklagebank. Man wirft ihnen vor, dieses tödliche Geschäft organisiert zu haben. Wenn sich die Vorwürfe bestätigen, verdienen sie ein hartes Urteil.
Aber machen wir uns nichts vor: Sie sind nur ein Teil des Problems.
Was sich hier Bahn bricht, ist mehr als ein krimineller Akt. Es ist ein Systemversagen – und Europa steht mittendrin. Denn hinter jedem Schlauchboot, das in der Dunkelheit ablegt, steht ein Versprechen, das der Westen nicht einlöst: Schutz. Perspektive. Menschlichkeit.
Europa macht dicht – und wundert sich über das Ergebnis. Wer legale Wege zur Einreise versperrt, öffnet Schleusern Tür und Tor. Wer Asylverfahren verschleppt, wer Visa unmöglich macht, wer inakzeptable Rückführungsabkommen mit autokratischen Staaten schließt, trägt Mitverantwortung für das, was in der Nacht geschieht. Für Menschlichkeit, die untergeht.
Wir reden viel über Sicherheit – und zu wenig über Gerechtigkeit.
Natürlich müssen Schleuser verurteilt werden. Wer andere bewusst in Lebensgefahr bringt, wer aus ihrer Not Profit schlägt, gehört vor Gericht. Aber das genügt nicht. Denn solange es keine anderen Wege gibt, solange das Leben in einem Schlauchboot die letzte Option bleibt, wird sich an der Zahl der Opfer nichts ändern.
Europa hat sich bequem eingerichtet in seiner Abwehrhaltung. Aber jedes neue Bootsunglück, jeder neue Sarg sollte ein Aufschrei sein. Wo bleibt die Empörung über die eigenen Grenzen, die mehr verhindern als schützen? Wo sind die politischen Konzepte, die den Namen „Migrationspolitik“ verdienen? Nicht nur Mauern, nicht nur Abschreckung, sondern echte Alternativen?
Es reicht nicht, immer wieder dieselben Täter abzuurteilen, wenn das System sie stets neu gebiert. Es reicht nicht, die Hände zu heben und auf die „Komplexität des Problems“ zu verweisen. Menschen sterben – und Europa schaut zu, im Abstand der Formalität.
Der Tod im Ärmelkanal ist kein trauriger Einzelfall. Er ist das Symptom einer Politik, die Verantwortung abwälzt – auf Gerichte, auf Drittstaaten, auf die Natur. Doch am Ende ertrinken keine Paragraphen. Es sind Menschen.
Wann beginnt Europa, sich nicht nur rechtlich, sondern moralisch zu verantworten?
Autor: Daniel Ivers
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