Tag & Nacht


Kaum sind die Preise vergeben, die Reden gehalten, die Siegerfotos gemacht, da senkt sich eine eigenartige Ruhe über die Literaturlandschaft. Die Saison der Trophäen ist vorbei – doch wer aufmerksam blättert, merkt schnell: Jetzt beginnt die eigentliche Erntezeit. Abseits des Jubels und der Bestsellerlisten warten Romane, die leiser, aber nachhaltiger wirken. Geschichten, die nicht schreien, sondern singen.


„L’Entroubli“ von Thibault Daelman – ein Erstling mit Schneid und Seele

Das Wort gibt es gar nicht, und doch trifft es ins Mark: L’Entroubli – das Vergessene, das Zwischen, das kaum Sagbare. Thibault Daelman, Jahrgang 1987, legt mit seinem Debüt einen Roman vor, der das Milieu der kleinen Leute nicht verklärt, sondern zum Klingen bringt.

Er erzählt von einer Mutter mit großen Träumen für ihre fünf Kinder, von einem Vater, der längst in der Flasche verschwunden ist, und von einer Kindheit im grauen Gürtel von Paris. Daelman schreibt in Splittern, in leuchtenden Sätzen, als würde er die Sprache selbst gegen das Schweigen stemmen. Jede Seite trägt den Rhythmus des Überlebens.

Sein Roman ist kein sozialer Traktat, sondern ein Liebesbrief an die Würde derer, die vergessen werden.


„Le diable est un menteur“ von Femi Kayode – Glaube, Macht und der Staub von Lagos

Philip Taiwo ist kein gebrochener Ermittler aus dem Noir-Lehrbuch. Er ist Psychologe, Vater, Zweifler – ein Mann, der seine Moral durch die Straßen von Lagos trägt, während ringsum Korruption blüht und Prediger Geld sammeln wie Regen.

Als die Frau eines einflussreichen Geistlichen verschwindet, gerät Taiwo in einen Strudel aus Politik, Religion und Gewalt. Femi Kayode, selbst Nigerianer, schreibt mit einer Klarheit, die fast journalistisch wirkt, und einem Taktgefühl, das weit über das Genre hinausgeht.

Sein Lagos ist eine vibrierende Metropole, chaotisch und göttlich zugleich. Le diable est un menteur ist ein Kriminalroman, der in Wahrheit ein Seelenporträt eines Landes ist, das zwischen Himmel und Hölle pendelt.


„Sa guerre“ von Laurent Bénégui – eine Mutter im Labyrinth der Verzweiflung

Laurent Bénégui, bekannt für seine feine Ironie, lässt sie diesmal beiseite. Sa guerre ist ein stiller Schrei. Die Geschichte von Hélène Dompierre, deren Tochter sich dem Islamischen Staat anschließt, liest sich wie ein innerer Monolog, ein atemloses Protokoll der Entfremdung.

Zwischen Paris, Ankara und einem syrischen Flüchtlingslager sucht Hélène nach einem Rest Hoffnung – und nach sich selbst. Bénégui schreibt knapp, ohne jede Pose, und trifft damit mitten ins Herz.

Es ist ein Roman über Schuld und Mutterliebe, über die Frage, was Vergebung bedeuten kann, wenn die Welt verrückt geworden ist.


„Nuit indigo“ von Lars Mytting – Mythen, Schnee und Schicksal

Es beginnt mit einer Tierszene, die man so schnell nicht vergisst: Ein Bauer findet in der norwegischen Winterlandschaft ein totes Schaf – und darunter ein Lamm mit silbrigem Fell.

Lars Mytting, der große nordische Erzähler, entfaltet daraus eine Geschichte, die zwischen Legende und Historie schwebt. Zwei siamesische Zwillingsschwestern, Halfrid und Gunhild, erschaffen aus der mystischen Wolle ein Gewebe, das das Ende der Welt voraussagt.

„Nuit indigo“ ist kein historischer Roman im klassischen Sinn, sondern eine Studie über das Erzählen selbst – darüber, wie Gemeinschaften ihre Mythen weben, um das Chaos zu bändigen. Myttings Sprache ist präzise, fast handwerklich – und doch von poetischer Glut.


„Quand dansent les oiseaux“ von Kiyoko Murata – zwei alte Frauen und der Klang der Stille

In einer stillen Bucht Japans leben Io (92) und Someko (88), zwei letzte Bewohnerinnen einer Insel, die längst vergessen wurde. Jeden Morgen tauchen sie in die See, als ginge es um ein Ritual.

Ihre Tochter Umiko, die sie aufs Festland holen will, versteht erst spät, dass diese Insel für die alten Frauen ein Ort der Erinnerung ist. Die Vögel, die um sie kreisen, tragen – so glauben sie – die Seelen ihrer Toten.

Kiyoko Murata, mit über achtzig Jahren noch immer erstaunlich modern, schreibt in sanften, klaren Sätzen. Ihr Roman ist ein Gleichgewicht zwischen Leben und Tod, zwischen Wasser und Wind. Quand dansent les oiseaux ist kein Buch, das man verschlingt – man lässt es nachklingen.


„Laissez-moi brûler en paix“ von Peter Farris – ein Land unter Waffen

Peter Farris beschreibt eine Welt, in der die Polizei längst zur Miliz geworden ist, wo Gewalt zum Reflex gehört. Nach einer missglückten Razzia sterben Unschuldige, und Jahre später beginnt eine Kette von Rachemorden.

Was wie ein Thriller beginnt, wird schnell zur Parabel über Amerikas toxische Obsession mit Sicherheit. Farris schreibt ohne Pathos, aber mit Zorn. Sein Ton ist direkt, kantig, politisch.

Zwischen den Zeilen lodert die Frage: Wie viel Demokratie lässt sich mit Angst verteidigen?


„Suissexe“ von Jen Beagin – eine Stimme, die ins Leben greift

Greta, Mitte dreißig, transkribiert Therapiesitzungen eines Sexcoachs. Sie hört einer Frau zu, deren Stimme sie nicht mehr loslässt. Sie nennt sie „Suissexe“. Als sie ihr auf der Straße begegnet, beginnt ein Spiel mit Identität, Begehren und Wahrheit.

Jen Beagin erzählt diese Obsession mit schwarzem Humor und fast schmerzlicher Empathie. Hinter der Komik lauert der Ernst: Wie nah darf man einem Menschen kommen, den man nur durch seine Stimme kennt?

Suissexe ist eine Liebesgeschichte, eine Farce, ein Selbstgespräch – und ein Beweis, dass Beagin zu den klügsten Beobachterinnen weiblicher Sehnsucht gehört.


„Les Maisons de sel“ von Hala Alyan – das Gedächtnis der Frauen

„Salma blickt in den Kaffeesatz ihrer Tochter und weiß, dass sie ihr lügen muss.“ Schon dieser erste Satz zieht einen hinein.

Über fünf Jahrzehnte begleitet Hala Alyan die palästinensische Familie Yacoub, von Jaffa über Kuwait und Beirut bis in die USA. Ihre Sprache ist schlicht, aber voll Resonanz. In jeder Generation sind es die Frauen, die die Geschichten tragen – in Rezepten, Düften, Gesten.

Alyan schreibt über den Verlust der Heimat, aber auch über die Kunst, sie im Herzen weiterzubewahren. Les Maisons de sel ist ein Roman über Migration, Trauma und Stolz – und über das, was bleibt, wenn alles andere verweht.


Ein stiller Herbst für aufmerksame Leser

Wenn die Preisträger längst im Regal glänzen, sind es oft diese leiseren Bücher, die nachhallen. Sie erzählen vom Überleben, vom Glauben, von der Sehnsucht nach Sinn. Und vielleicht liegt genau darin ihr Zauber: Sie wollen nicht glänzen – sie wollen begleiten.

Also: Warum nicht einmal den großen Namen entkommen, dem Mainstream den Rücken kehren und sich treiben lassen durch fremde Stimmen, andere Rhythmen, neue Welten? Der Herbst ist lang, die Abende sind dunkel – und kaum etwas wärmt besser als ein Buch, das niemand einem empfohlen hat.

Ein Artikel von M. Legrand

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