Ein bisschen Glitzer, ein Klick, ein Paket. So einfach verführt Shein Millionen Französinnen und Franzosen. 19 Millionen Besucher pro Monat, die Produkte von Shein in den Regalen der ehrwürdigen französischen Kaufhäuser, ein Name in allen sozialen Netzwerken. Shein ist längst keine Randerscheinung mehr, sondern der neue Elefant im Kleiderschrank. Und plötzlich steht die Regierung auf den Barrikaden – Serge Papin warnt vor einem „Far West numérique“, Amélie de Montchalin will Pakete öffnen lassen, Roland Lescure spricht von „surveillance rapprochée“. Patriotismus in Textilfragen – fast wie früher.
Aber worum geht’s eigentlich? Nur um Kleider, um billige Tops und Jogginghosen? Oder steckt dahinter etwas Tieferes – eine Geschichte von Macht, Abhängigkeit und kultureller Selbstaufgabe?
Vom Stolz der Nadeln zum Scherbenhaufen
Wer heute durch das Pariser Viertel Le Sentier läuft, hört kaum noch das Rattern der Nähmaschinen, das dort einst den Alltag prägte. In den 1960er-Jahren war das Viertel der vibrierende Puls der französischen Modeindustrie. Hier entstand, was man später als le prêt-à-porter feierte: erschwingliche Mode mit Stil, gemacht für alle. Marken wie Kookaï, Naf Naf oder Maje sprangen aus diesen engen Gassen direkt in die Kleiderschränke des Landes. Und Agnès B., mit ihrer schlichten Eleganz, war der Inbegriff einer neuen französischen Leichtigkeit.
Doch dann veränderte sich alles. Paris wollte seine Werkstätten loswerden, aus Gründen der Stadtplanung – oder des guten Gewissens. Billige Arbeitskräfte, meist Migrant:innen, nähten heimlich in Kellern, während oben das neue Bürgertum flanierte. Schritt für Schritt verließen die Nähmaschinen die Stadt. Und mit dem Eintritt Chinas in die Welthandelsorganisation begann die große Wanderung des Textils.
Die Produktion wanderte nach Osten, die Gewinne nach Westen – und der Stolz blieb auf der Strecke. La Vérité si je mens, jener Filmklassiker der 1990er, zeigte das mit einem Augenzwinkern: der Wandel eines Viertels, das einst Mode machte und nun nur noch Geschichten davon erzählte.
Shein: Das digitale Sweatshop-Wunder
Heute produziert Shein in den Vororten von Kanton, in Hallen, die kaum jemand je gesehen hat. Jedes Kleidungsstück wird gestoppt, gezählt, getaktet. Minuten, manchmal Sekunden, entscheiden über Löhne. Der Mensch gegen die Stoppuhr. So entstehen die Kleider, die in Paris, Lyon oder Marseille per Klick bestellt werden – billig, schnell, austauschbar.
Und dazwischen? Da tauchen immer wieder Skandale auf. Schlechte Materialien, gefährliche Chemikalien, mutmaßlich verbotene Produkte – bis hin zu illegalen Spielzeugen, die in den letzten Wochen für Schlagzeilen sorgten. Die Plattform funktioniert wie ein riesiger Markt ohne Mauern. Kontrolle? Kaum möglich.
Das eigentliche Geschäftsmodell aber liegt anderswo: in der Geschwindigkeit. Jeden Tag neue Kollektionen, jede Stunde neue Reize. Das Gehirn klickt, bevor es denkt. Die Droge ist die Neuheit selbst.
Eine alte Geschichte – mit vertauschten Rollen
Ironisch, nicht wahr? Vor 150 Jahren war es Europa, das China mit einer Droge überflutete: dem Opium. Damals wollte die chinesische Regierung die Einfuhr stoppen. Doch die westlichen Mächte – Großbritannien, Frankreich, später auch andere – erzwangen mit Kanonen die koloniale Abhängigkeit. Die sogenannten Opiumkriege endeten mit Gebietsverlusten, erzwungenen Verträgen, Demütigung.
Heute hat sich das Spielfeld gedreht. Die Droge heißt nicht mehr Opium, sondern Konsum. Und diesmal sind wir es, die sie gierig inhalieren. Billige Mode, schnelle Klicks, Wegwerfgesellschaft – alles made in China. Eine neue Art von Kolonisation, sanft und schillernd verpackt in Plastikfolie.
Man könnte sagen: Shein ist die Seidenstraße 2.0, aber sie führt nicht mehr nur nach Westen, um Gewürze und Porzellan zu bringen. Sie führt in unsere Wohnzimmer, in unsere Smartphones, in unsere Köpfe.
Ein patriotischer Reflex – oder bloß Theaterdonner?
Natürlich: Wenn französische Minister jetzt laut werden, klingt das nach Aufbruch. Endlich will man „handeln“, „kontrollieren“, „blockieren“. Doch was lässt sich überhaupt blockieren in einer Welt, die im Sekundentakt online bestellt? Kann ein Zollbeamter diese Flut aufhalten?
Patriotismus klingt gut, besonders in Schlagzeilen. Doch solange Millionen Kund:innen auf ihre Pakete aus Shenzhen warten, bleibt das Ganze Symbolpolitik. Es ist, als würde man versuchen, mit einem Sieb das Meer leer zu schöpfen.
Denn seien wir ehrlich: Die Versuchung ist groß. Ein Kleid für zwölf Euro, eine Bluse für acht – wer denkt da noch über Arbeitsbedingungen nach? Wir wissen es doch alle, verdrängen es aber gerne. Und so wird Shein zu einem Spiegel unserer eigenen Bequemlichkeit und Konsumgier.
Der französische Traum – verpackt in Polyester
Vielleicht ist das Bitterste an der ganzen Geschichte, dass Shein nicht einfach nur Marktanteile frisst. Shein raubt uns auch das Gefühl, dass Mode einmal etwas Künstlerisches, beinahe Poetisches war.
In Frankreich war Mode Identität. Ausdruck. Stolz. Coco Chanel hat einst gesagt, Mode sei nicht nur das, was man trägt – sondern das, was in der Luft liegt. Heute liegt in der Luft: Acryl, Polyester und Algorithmus.
Die Algorithmen von Shein wissen, was wir wollen, bevor wir es selbst wissen. Farben, Schnitte, Trends – alles ausgelesen, alles berechnet. Das ist nicht mehr Mode, das ist Psychotechnologie.
Und wer kontrolliert eigentlich diese neue Maschinerie? Die Regierung kann Pakete öffnen lassen, aber nicht Sehnsüchte.
Die Rache der Nähmaschine
Wenn man es historisch betrachtet, hat sich die Machtachse still verschoben. Vor einem Jahrhundert haben europäische Fabriken die Welt eingekleidet, jetzt tut es China. Früher verschickte Frankreich Luxus in alle Himmelsrichtungen, heute importiert es Wegwerfware.
Und irgendwo in Guangzhou näht vielleicht eine junge Frau – sie könnte so alt sein wie die Pariser Influencerin, die später ihr Kleid trägt. Zwei Leben, verbunden durch einen Algorithmus, getrennt durch tausende Kilometer.
Man könnte fast meinen, es sei eine poetische Gerechtigkeit: Die Nachkommen derer, die einst von uns mit Opium überzogen wurden, überschwemmen uns nun mit billigem Polyester.
Ein Flackern von Widerstand
Was bleibt vom „patriotisme économique“? Vielleicht nicht viel, aber immerhin ein Unbehagen. Immer mehr junge Leute wenden sich der „slow fashion“ zu, suchen nach französischen Labels, die lokal nähen, recyceln, fair produzieren. Kleine Marken, fast romantisch in ihrem Mut.
Sie kämpfen gegen Goliath, ohne Rüstung, aber mit Überzeugung. Und ja, manche gewinnen tatsächlich Aufmerksamkeit, weil sie eine Geschichte erzählen.
Doch das reicht noch nicht. Ohne eine neue Erzählung über Konsum, über Würde, über Wert, bleibt Shein nur ein Symptom, nicht die Krankheit.
Vielleicht ist das unsere moderne Kolonialgeschichte – nur dass diesmal niemand Kanonen schickt, sondern Influencer. Niemand besetzt Territorien, sondern unsere Köpfe.
Und vielleicht müssen wir, um das zu verstehen, den Stoff unserer eigenen Begehren hinterfragen. Wer näht eigentlich unsere Identität? Wer bestimmt, was schön, was „in“ ist?
Solange wir das nicht beantworten, bleibt Shein nicht der Feind, sondern der Spiegel. Und der zeigt uns – gnadenlos – wie leicht wir uns kaufen lassen.
Ein Artikel von M. Legrand
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