Tag & Nacht


Es gibt Orte in Frankreich, die wirken auf den ersten Blick wie aus einem Bilderbuch gefallen: grüne Hügel, weiße Häuser mit roten Fensterläden, Blumen an den Balkonen – und dann dieses intensive Rot, das von langen Girlanden an den Hauswänden leuchtet. Willkommen in Espelette, einem kleinen Dorf im französischen Baskenland, das sich jedes Jahr im Oktober in ein Festival der Sinne verwandelt.

Hier wird ein Gewürz gefeiert, das längst Kultstatus erreicht hat – der Piment d’Espelette. Kein scharfes Monster aus der Karibik, sondern eine mild-fruchtige Chilisorte, die sich über Jahrzehnte hinweg zur Symbolfigur einer ganzen Region entwickelt hat.

Eine Frucht mit Charakter

Der Piment kam vermutlich im 17. Jahrhundert aus Südamerika nach Europa – und fand im baskischen Mikroklima seine neue Heimat. In Espelette und neun umliegenden Gemeinden wird er heute unter streng kontrollierten Bedingungen angebaut. Und obwohl seine leuchtend rote Farbe anderes vermuten lässt, bringt er keine tränentreibende Schärfe mit sich. Im Gegenteil: Der Geschmack ist fein, leicht süßlich, mit fruchtigen und tomatigen Noten.

Er ist das Herzstück vieler baskischer Gerichte – von gegrilltem Fleisch über Eintöpfe bis hin zu Schokolade. Dabei ersetzt er in der Region oft den schwarzen Pfeffer. Ein Hauch davon genügt, um ein einfaches Gericht in etwas Besonderes zu verwandeln.

Wenn das ganze Dorf tanzt

Ende Oktober verwandelt sich Espelette jedes Jahr in eine große Bühne. Dann wird die Ernte des Piments gefeiert – und zwar mit allem, was dazugehört: Blaskapellen ziehen durch die Gassen, es duftet nach gegrilltem Fleisch und Piment, die Häuser sind mit langen Piment-Schnüren geschmückt.

Was einst als Werbeaktion für ein eher unbekanntes Dorf begann, ist heute ein Besuchermagnet: Bis zu 20.000 Menschen pilgern zu diesem Fest, das 1967 zum ersten Mal gefeiert wurde. Im Mittelpunkt steht der große Umzug der Bruderschaft der Piment-Produzenten, bei dem sich neue Mitglieder in die Reihen der „Chevaliers“ einreihen dürfen.

Am Sonntagmorgen wird der Piment feierlich gesegnet – ein ungewöhnlicher, aber tief symbolischer Akt. Denn für viele ist der Piment nicht nur ein Produkt, sondern ein Ausdruck regionaler Identität.

Tradition trifft Genuss

Was macht dieses Fest so besonders? Vielleicht ist es die Mischung aus folkloristischer Ernsthaftigkeit und baskischer Lebensfreude. Eine Teilnehmerin bringt es auf den Punkt: „Es ist wie die Fêtes de Bayonne im Sommer – nur schärfer.“

Der große Festbankett vereint Einheimische und Touristen an langen Tafeln. Serviert wird das traditionelle Gericht „Hachua“, eine Art Ragout aus Kalbfleisch – natürlich mit ordentlich Piment gewürzt. Es wird gegessen, gelacht, getrunken und gesungen. Und wer gerade noch allein dastand, sitzt plötzlich neben wildfremden Menschen, die einem zuprosten, als kenne man sich seit Jahren.

Wie oft passiert es noch, dass man auf einem Dorffest als Fremder empfangen wird – und als Freund wieder geht?

Vom Gemüse zum Kulturgut

2014 wurde das Fest offiziell als immaterielles Kulturerbe Frankreichs anerkannt. Doch was bedeutet das eigentlich? Es ist eine Auszeichnung für gelebte Traditionen – für Bräuche, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Und der Piment gehört für Espelette genauso dazu wie die baskische Sprache, die Musik und der Stolz auf die eigene Herkunft.

Die Produktion ist klein, aber fein. Nur wenige Betriebe erfüllen die strengen Kriterien für das geschützte Herkunftssiegel. Handernte, sorgfältige Trocknung und ein langer Reifungsprozess gehören dazu. Der meiste Piment wird heute gemahlen verkauft – als feines, ziegelrotes Pulver in kleinen Gläschen oder rustikalen Säckchen.

Doch wer einmal durch Espelette spaziert ist, sieht sofort: Hier geht es nicht nur um ein Gewürz. Hier geht es um Stolz, um Geschichte, um ein Lebensgefühl.

Warum man hinfahren sollte

Espelette ist nicht Paris, nicht Bordeaux, nicht die Provence. Es ist kleiner, langsamer, aber unglaublich echt. Wer Frankreich abseits der Postkartenmotive erleben will, ist hier goldrichtig.

Die Fête du Piment bietet einen authentischen Einblick in das Leben im französischen Baskenland – mit all seinen Widersprüchen, seiner Herzlichkeit und seiner Energie.

Und wer weiß – vielleicht nimmt man nicht nur ein Glas Pimentpulver mit nach Hause, sondern auch ein neues Gefühl für das, was es heißt, irgendwo wirklich verwurzelt zu sein.

Ein Reisebericht von V.O.Yager

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