Tag & Nacht


Was ist eigentlich so schlimm daran, sich selbst um seine Rente zu kümmern? Warum reagiert Frankreich immer noch mit fast religiöser Inbrunst ablehnend auf jeden Vorschlag, der auch nur ein bisschen mehr Eigenverantwortung in die Altersvorsorge bringen will? Der Vorschlag Gabriel Attals, jedem Kind bei Geburt 1.000 Euro auf ein individuelles Vorsorgekonto zu überweisen, löst reflexartige Abwehr aus – als hätte man die Solidarität gleich ganz beerdigt. Dabei ist die eigentliche Frage eine andere: Wollen wir überhaupt noch ein System, das uns vorgibt, wie fürs Alter vorgesorgt werden darf?

Frankreich verteidigt sein Umlagesystem wie einen heiligen Gral – und ja, es hat über Jahrzehnte Millionen Menschen verlässlich versorgt. Aber was passiert, wenn die Demografie das Modell sprengt? Wenn aus zwei Beitragszahlern pro Rentner plötzlich nur noch einer wird? Wenn immer mehr junge Menschen das System als leere Versprechung empfinden, statt als Garant ihrer Zukunft? Dann braucht es neue Ideen – und einen realistischen Blick auf das, was der Staat leisten kann. Und was nicht mehr.

Attals Vorschlag ist ein symbolischer Tropfen, keine Revolution. Aber er enthält einen Satz, der wehtut, weil er wahr ist: Der Staat allein kann das Problem nicht lösen. Und vielleicht will das auch nicht mehr jeder. In einer Gesellschaft, die sich immer stärker individualisiert, in der Lebensläufe vielfältiger werden und das Vertrauen in staatliche Systeme bröckelt, wirkt die Vorstellung einer persönlichen Altersvorsorge nicht wie ein neoliberaler Albtraum, sondern wie ein Versprechen: Du kannst selbst gestalten. Du bist nicht ausgeliefert. Du baust etwas auf – für dich.

Natürlich birgt das Risiken. Kapitalmärkte schwanken, nicht jeder kann gleich viel sparen, soziale Ungleichheiten könnten sich vertiefen. Aber sind das wirklich Argumente für den Status quo? Für ein System, das jungen Menschen heute oft nur noch mit Zynismus begegnet? Wenn schon von Geburt an ein kleiner Kapitalstock wächst – warum sollte das nicht der Anfang einer neuen Verantwortungsgemeinschaft sein, in der der Staat den Rahmen setzt, aber nicht mehr alles kontrolliert?

Der französische Sozialstaat ist stolz, umfassend – und zunehmend überfordert. Wer glaubt, dass alles so weiterlaufen kann, lebt in einer Illusion. Die bittere Wahrheit ist: Die Idee der allmächtigen Rentenkasse, die am Ende für alle sorgt, wird in einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft nicht zu halten sein.

Vielleicht ist es Zeit, das große Versprechen der Republik umzudeuten: Nicht mehr „Der Staat kümmert sich um dich von der Wiege bis zur Bahre“, sondern: „Wir geben dir den Start – den Rest gestaltest du selbst.“ Das mag unbequem klingen. Aber vielleicht ist es das ehrlichste, was man einem Neugeborenen heute sagen kann.

Ein Kommentar von C. Hatty

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