Tag & Nacht


Wenn Jean-Marie Merentier in seinem Garten steht, hört er kein Zwitschern, kein Rauschen des Windes, sondern das Dröhnen von Triebwerken. Alle zehn Minuten ein Flugzeug, Tag und Nacht. Sein Haus liegt nur wenige Kilometer vom Flughafen Marseille-Provence entfernt – in Marignane, im Département Bouches-du-Rhône. „Manchmal fliegen sie so tief, dass die Fensterscheiben vibrieren“, sagt er und zeigt auf den Himmel, der hier mehr Metall als Blau kennt.

Seit Jahren versuchen Merentier und seine Nachbarn, das Unmögliche zu erreichen: Ruhe. Sie fordern ein Nachtflugverbot zwischen 23 Uhr und 6 Uhr morgens, so wie es an anderen französischen Flughäfen längst gilt – in Paris-Orly, Nantes oder Strasbourg. Doch in Marignane, einem der verkehrsreichsten Flughäfen Südfrankreichs, bleibt der Himmel unruhig.


Die Nacht gehört den Flugzeugen

„C’est insupportable“, murmelt eine ältere Dame während einer Versammlung des Anwohnerkollektivs. Ihre Stimme geht im nächsten Überflug unter. Das ist fast symbolisch für das, was die Menschen hier empfinden: Überhört werden.

Im Sommer, wenn Chartermaschinen im Minutentakt starten, wird das Dröhnen zum Dauerlärm. „Bis Mitternacht, manchmal bis halb eins – da kannst du nicht schlafen“, klagt Merentier. Was als technisches Problem begann, ist längst zu einer sozialen Frage geworden. Wie viel Lärm muss eine Gesellschaft aushalten, damit andere günstig reisen können?

Die Präfektur hat immerhin ein wenig reagiert. Sie will besonders laute Maschinen in bestimmten Nachtstunden verbieten. Doch das reicht den Bewohnern nicht. Sie wollen ein vollständiges Couvre-feu aérien, ein echtes Nachtflugverbot. „Wir wollen keine halben Sachen“, sagt eine Mutter aus Rognac, „unsere Kinder schlafen hier jede Nacht mit Ohrstöpseln.“


Politik zwischen Druck und Pragmatismus

Neun Bürgermeister aus den umliegenden Gemeinden haben sich mittlerweile hinter die Forderung gestellt. In einem gemeinsamen Brief an den Präfekten heißt es: „La population n’en peut plus“ – die Menschen können nicht mehr.

Diese Einigkeit ist selten, denn wirtschaftlich hängt viel am Flughafen von Marignane: mehr als 8.000 Arbeitsplätze, Zulieferer, Hotels, Logistik. Für die Region ist er eine Lebensader – für die Anwohner eine Plage in schlaflosen Nächten.

„Niemand will den Flughafen schließen“, sagt der Bürgermeister von Vitrolles, „aber Nachtruhe ist ein Grundrecht.“ Seine Worte klingen nüchtern, fast juristisch, doch dahinter steht echte Erschöpfung.

Und die Airlines? Sie halten sich bedeckt. Offiziell heißt es, man prüfe „Anpassungen an die neuen Schallschutzvorgaben“. Inoffiziell aber wird gewarnt, ein Nachtflugverbot könnte „den Standort Marseille-Provence schwächen“. Zwischen ökologischer Verantwortung und wirtschaftlicher Notwendigkeit spannt sich ein stiller Konflikt, der über die Start- und Landebahnen hinausreicht.


Leben im Dauerrauschen

Wer hier wohnt, entwickelt Strategien zum Überleben. Fenster mit Spezialglas, Gartenarbeit mit Ohrstöpseln, Gespräche, die mitten im Satz abbrechen, wenn ein Airbus über das Dach zieht. Ein paradoxes Gefühl liegt in der Luft: Stolz auf den modernen Flughafen – und gleichzeitig Wut über seine Nähe.

Ein junger Familienvater aus Les Pennes-Mirabeau erzählt: „Wir haben das Haus gekauft, weil es günstig war. Heute wissen wir warum.“ Er lacht kurz, resigniert, dann sagt er: „Aber du gewöhnst dich nicht an Lärm. Nie.“

Wissenschaftliche Studien bestätigen, was die Anwohner längst spüren: Dauerlärm erhöht das Risiko für Bluthochdruck, Herzkrankheiten und Schlafstörungen. Laut der französischen Umweltbehörde Bruitparif sind in der Region Marseille über 70.000 Menschen regelmäßig einem Pegel von über 55 Dezibel in der Nacht ausgesetzt – das ist, als würde ständig jemand flüstern, nur lauter, härter, endloser.


Hoffnung am Horizont?

In Paris wird inzwischen geprüft, ob ein landesweites Regelwerk für Nachtflüge eingeführt werden könnte. Marignane steht auf der Liste der „kritischen Fälle“. Ein Fortschritt – aber kein Durchbruch. Denn jeder Flughafen ist anders, jeder Luftraum politisch vermint.

Trotzdem geben die Bürger nicht auf. Sie organisieren Demos, schreiben Briefe, halten Mahnwachen. In der letzten Versammlung in Vitrolles rief eine Rentnerin ins Mikrofon: „On ne veut pas de privilèges, on veut dormir !“ – Wir wollen keine Privilegien, wir wollen schlafen!

Ein Satz, der hängen bleibt.


Wenn der Himmel laut bleibt

Abends, wenn die Sonne über der Étang-de-Berre versinkt, könnte Marignane ein friedlicher Ort sein. Die Farben sind mild, das Licht weich. Doch kaum ist es still, kommt das nächste Flugzeug.

Das Dröhnen ist wie ein Taktgeber, der das Leben hier bestimmt – unaufhaltsam, unnachgiebig. Jean-Marie Merentier steht in seinem Garten, schaut hinauf, dann sagt er: „Wir kämpfen nicht gegen die Flugzeuge. Wir kämpfen für das Recht, einmal wieder Stille zu hören.“

Vielleicht ist das der wahre Kern dieser Bewegung – weniger Rebellion, mehr Sehnsucht nach Ruhe in einer Welt, die nie abschaltet.

Ein Artikel von M. Legrand

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