Kaum ein Name spaltet die digitale Welt so sehr wie der von Elon Musk. Für die einen ist er der unbeirrbare Visionär, der Menschheit und Technologie versöhnen will. Für die anderen: ein mächtiger Unternehmer mit gefährlicher Lust am Chaos. Mit Grokipedia, seiner neuen, KI-basierten Enzyklopädie, rührt Musk nun an ein Heiligtum des Internets – an das Prinzip der offenen, gemeinschaftlich geprüften Wahrheit, wie es seit über zwanzig Jahren durch Wikipedia verkörpert wird.
Doch was, wenn die künstliche Intelligenz hinter Grokipedia mehr Fiktion als Fakt liefert?
Das Versprechen einer „wahren“ Enzyklopädie
Musk nennt sein Projekt eine Plattform „für die Wahrheit, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit“. Der Tonfall klingt nach Schwur vor Gericht – und nach Provokation gegenüber klassischen Medien, die er regelmäßig als „Lügner“ bezeichnet. Grokipedia, online seit Oktober 2025, speist sich aus der KI Grok, entwickelt von Musks Firma xAI, und soll laut Ankündigung das Internetwissen in strukturierter, verständlicher Form bündeln.
Das Konzept erinnert auf den ersten Blick an Wikipedia, doch der Unterschied ist gravierend: Während Wikipedia von Millionen Freiwilligen gepflegt, korrigiert und moderiert wird, erzeugt Grokipedia seine Inhalte vollautomatisch. Eine künstliche Intelligenz erstellt Artikel, versieht sie mit Quellen und aktualisiert sie selbstständig.
Klingt nach Effizienz, nach Zukunft. Aber: Wer kontrolliert, welche Quellen die Maschine für glaubwürdig hält?
Cornell-Forscher schlagen Alarm
Zwei Forscher der renommierten Cornell Tech, Harold Triedman und Alexios Mantzarlis, wollten es wissen. Sie analysierten Hunderttausende Grokipedia-Artikel. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die Plattform stützt sich in hohem Maß auf „diskutable“ oder gar „problematische“ Quellen – vor allem in politischen Themenfeldern.
So zitiert Grokipedia etwa auf einer Seite über die berüchtigte Verschwörungstheorie „Clinton Body Count“ das ultrarechte Portal InfoWars, bekannt für Fake News und Hetze. Andere Artikel beziehen sich auf staatlich gelenkte Medien aus China oder Iran, auf Seiten mit antisemitischen oder antimuslimischen Inhalten und auf Webseiten, die Pseudowissenschaft verbreiten.
Die Forscher formulieren es trocken: „Die Schutzmechanismen für Quellenverifikation wurden weitgehend umgangen.“
Das ist höflich ausgedrückt.
Musks Angriff
Auf Anfrage der AFP antwortete xAI nicht mit einem Statement – sondern mit einem automatisierten Satz: „Die traditionellen Medien lügen.“ Eine Reaktion, die mehr über Musks Denken verrät als jede Pressemitteilung.
In seiner Online-Welt scheint der Milliardär längst in einem permanenten Schlagabtausch mit klassischen Medien zu leben. Schon auf X (früher Twitter), seinem eigenen sozialen Netzwerk, inszeniert er sich als Wächter einer vermeintlich „unzensierten Wahrheit“. Nun überträgt er dieses Denken auf das Wissensuniversum.
Doch darf eine Enzyklopädie ideologisch geprägt sein? Und was passiert, wenn Millionen Nutzer eine solche Plattform für objektiv halten?
Der Angriff auf die Glaubwürdigkeit
Wikipedias größte Stärke ist die Gemeinschaft. Hinter jedem Artikel stehen Diskussionen, Prüfungen, Korrekturen – kurz: menschliche Vernunft. Musk dagegen ersetzt sie durch Algorithmen, die lernen, was „wahr“ sei, basierend auf den Daten, die sie füttern.
Das Problem: Eine KI unterscheidet nicht zwischen Wahrheit und Überzeugung, wenn sie auf voreingenommene Quellen stößt. Sie verstärkt, was sie oft liest. Das bedeutet: Wenn genug falsche Informationen kursieren, können sie plötzlich den Anschein objektiver Wahrheit bekommen.
Genau das vermuten Forscher, sei bei Grokipedia geschehen. Besonders heikel: Viele Artikel klingen auf den ersten Blick neutral, fast lexikalisch. Erst wer die Quellen prüft, erkennt die Schlagseite. Ein gefährliches Spiel, denn im digitalen Alltag nehmen Nutzer selten diese Mühe auf sich.
Die Sehnsucht nach Alternativen
Musks Erfolg basiert nicht nur auf Technologie – sondern auch auf Emotion. Viele Menschen, frustriert von Politik, Medien oder „Mainstream-Narrativen“, sehnen sich nach einer Gegenstimme. Grokipedia liefert ihnen genau das: eine Plattform, die vorgibt, „unabhängig“ zu sein.
In Wahrheit aber spiegelt sie ein neues Machtmodell wider: Ein Milliardär kontrolliert die Infrastruktur der Information, von sozialen Netzwerken über Satelliteninternet bis hin zur Enzyklopädie. Die Unabhängigkeit, die er verspricht, bleibt dabei – gelinde gesagt – relativ.
Doch warum greifen Menschen überhaupt zu solchen Alternativen? Vielleicht, weil Vertrauen heute zu einer knappen Ressource geworden ist. Viele fühlen sich von traditionellen Medien bevormundet. Musk nutzt diese Skepsis – und füttert sie mit der Verheißung digitaler Freiheit.
Eine neue Form des Wissens?
Man könnte einwenden: Ist das nicht einfach der nächste Schritt im evolutionären Spiel um Information? Jede Generation hatte ihre Wahrheitssysteme – Kirchen, Enzyklopädien, Suchmaschinen. Nun eben KIs. Vielleicht ist Grokipedia nur der Anfang einer neuen, KI-kurativen Wissenskultur.
Doch diese Kultur stellt das Prinzip von Kontrolle und Verantwortung infrage. Wenn Maschinen Texte generieren, die menschlich klingen, aber nicht überprüfbar sind, entsteht eine hybride Realität – halb Fakt, halb Fiktion.
Wie sollen wir dann noch unterscheiden, was zählt?
Zwischen Vision und Manipulation
Elon Musk versteht es wie kaum ein anderer, Faszination und Furcht zu verschmelzen. Seine Projekte – von Tesla über SpaceX bis zu Neuralink – tragen stets den Stempel des „revolutionären Denkens“. Doch Grokipedia wirkt weniger wie ein Aufbruch, mehr wie ein Experiment mit der kollektiven Wahrnehmung.
Vielleicht glaubt Musk wirklich an eine objektive, algorithmisch bereinigte Wahrheit. Vielleicht aber auch an die Macht der Deutungshoheit. Und womöglich ist beides dasselbe für ihn.
Ein Spiegel unserer Zeit
Grokipedia ist damit mehr als nur ein weiteres Internetprojekt. Es ist ein Symptom. Ein Spiegel jener Epoche, in der Technologie längst das Terrain des Wissens besetzt hat – und in der Vertrauen zur härtesten Währung geworden ist.
Am Ende geht es nicht nur um Musk, sondern um uns alle. Um die Frage, wem wir glauben, wenn alles sagbar, alles produzierbar, alles kopierbar ist.
Vielleicht wird Wikipedia in ein paar Jahren nostalgisch wirken – wie eine kleine Insel der Menschlichkeit im Meer der maschinellen Meinungen. Oder sie erlebt eine Renaissance, weil wir begreifen, dass Wissen ohne kritisches Denken nichts wert ist.
Eins steht fest: Die Debatte um Grokipedia wird bleiben. Denn sie berührt den Kern des digitalen Zeitalters – unsere Beziehung zur Wahrheit.
Ein Artikel von M. Legrand
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