Tag & Nacht


Wenn in Frankreich die ersten Lichterketten in den Straßen aufleuchten, dann beginnt jene Zeit, die das Land in einen ganz besonderen Schimmer taucht: die Adventszeit. Sie riecht nach Zimt und Orangenschalen, nach Wachs und Kastanien, klingt nach Chorgesang und französischen Weihnachtsliedern – und sie erzählt Geschichten von Kindheit, von Hoffnung und von Gemeinschaft.

Doch wie genau erlebt man diese Wochen des Wartens auf Noël zwischen Bretagne und Provence, Paris und Straßburg?


Die französische Adventszeit – eine Mischung aus Besinnlichkeit und Lebensfreude

Frankreich hat, trotz seiner katholischen Tradition, kein so ausgeprägtes Adventsritual wie etwa Deutschland oder Österreich. Der Adventskranz etwa ist kein urfranzösischer Brauch – viele Familien kennen ihn erst durch den kulturellen Austausch mit Deutschland oder der Schweiz. Und doch: In immer mehr Wohnzimmern findet man inzwischen die vier Kerzen auf Tannengrün.

Stattdessen pflegen die Franzosen andere Rituale, die mindestens genauso zauberhaft sind. Die Weihnachtsmärkte – les marchés de Noël – gehören dazu. Besonders im Elsass, wo der berühmte Straßburger Weihnachtsmarkt als der älteste Europas gilt. Seit dem 16. Jahrhundert lockt er Besucher mit seinem Duft nach Glühwein, Gewürzen und frischem pain d’épices – dem würzigen Honigkuchen, der so etwas wie die französische Antwort auf Lebkuchen ist.

Wer durch die Buden schlendert, hört ein babylonisches Sprachengewirr, sieht funkelnde Kugeln, handgemachte Krippenfiguren und trinkt dazu ein Glas vin chaud, das in Straßburg gerne mit einem Schuss Kirschlikör serviert wird. Eine Sünde? Vielleicht. Aber eine köstliche.


Ein Land, viele Traditionen

Frankreich ist kein Land der Gleichförmigkeit, sondern der Regionen. Und so ist auch der Advent von Ort zu Ort anders gefärbt.

In der Provence etwa beginnt die Vorfreude auf Weihnachten mit den berühmten „Santons de Provence“. Diese kleinen Tonfiguren, liebevoll bemalt, stellen nicht nur die Heilige Familie dar, sondern auch den Bäcker, den Hirten, den Trommler – das ganze Dorf. Es ist, als würde die Geburt Jesu mitten im provenzalischen Alltag stattfinden.

In der Bretagne wiederum zieht es die Menschen in die Kirchen, wo bretonische Weihnachtslieder – teils auf Gälisch – erklingen und wo das Meer, selbst im Winter, eine Art spirituelle Rolle spielt.

Und in Paris? Dort ist der Advent eine Bühne. Die großen Kaufhäuser an der Boulevard Haussmann – allen voran Galeries Lafayette und Printemps – verwandeln ihre Schaufenster in kleine Wunderwelten. Kinder drücken sich die Nasen platt, während Erwachsene unauffällig wieder zu Kindern werden. Die Champs-Élysées glitzert in tausend Farben, und über der Stadt liegt dieser leicht elektrisierte Hauch von Eleganz, der sie jedes Jahr aufs Neue verzaubert.


Der Adventskalender – ein importiertes Glück

Interessanterweise ist der Adventskalender in Frankreich kein alter Brauch. Erst in den letzten Jahrzehnten ist er populär geworden – durch deutsche und schweizerische Einflüsse, aber auch durch geschicktes Marketing. Heute gibt es Adventskalender in allen Varianten: gefüllt mit Schokolade, Tee, Parfumproben oder sogar kleinen Likörfläschchen.

Vor allem Kinder lieben den Moment am Morgen, wenn sie das nächste Türchen öffnen. Doch auch Erwachsene haben längst den Reiz entdeckt, sich die Wartezeit auf Weihnachten zu versüßen. „C’est notre petit plaisir quotidien“, sagt man schmunzelnd – unser tägliches kleines Vergnügen.


Advent in der Küche – Duftende Vorfreude

Wer den französischen Advent verstehen will, muss in die Küchen schauen. Dort, wo Butter, Mandeln und Zucker verschmelzen, wo der Duft von frisch gebackenen sablés de Noël (Weihnachtskekse) durch die Wohnung zieht.

In vielen Familien wird in dieser Zeit bûche de Noël gebacken – die berühmte Weihnachtsrolle aus Biskuitteig und Buttercreme. Ursprünglich war sie ein Symbol für den Holzscheit, der früher in der Weihnachtsnacht im Kamin verbrannt wurde, um das neue Jahr zu segnen. Heute ist sie ein süßes Kunstwerk, das oft schon Wochen vor dem Fest gebacken wird – Schokolade oder Kastaniencreme, Karamell oder Vanille, jede Familie hat ihr Geheimrezept.

Und ja, auch der Glühwein hat in Frankreich seinen Platz gefunden. Doch meist etwas raffinierter gewürzt, manchmal mit Weißwein angesetzt. Dazu vielleicht ein Stück pain d’épices – und schon ist der Advent perfekt.


Die Krippe – mehr als nur Dekoration

Während in vielen Ländern der Weihnachtsbaum das Zentrum bildet, steht in Frankreich die Krippe – la crèche – im Mittelpunkt. In jeder Kirche, in Schulen, in Rathäusern und Wohnzimmern wird sie liebevoll gestaltet.

Besonders in Südfrankreich wird sie fast zu einer Theaterbühne. Die Santons erzählen die Geschichte des Lebens, nicht nur des Glaubens. Sie zeigen Bauern, Fischer, Schneiderinnen – das einfache Volk. „On y voit tout le monde“, sagt man in Marseille – man sieht dort die ganze Welt.

Diese Krippen werden nicht selten von Generation zu Generation weitergegeben, und manche Familien ergänzen sie jedes Jahr um eine neue Figur.


Musik, Kerzen, Gemeinschaft

In vielen Städten finden im Advent Konzerte und Chorgesänge statt. In Kathedralen wie in Chartres oder Lyon erklingen alte französische Weihnachtslieder – etwa „Il est né le divin enfant“ oder „Les anges dans nos campagnes“.

Der Klang dieser Lieder, getragen von Jahrhunderten, verleiht der Zeit eine Tiefe, die über Dekoration und Kommerz hinausgeht. Vielleicht liegt gerade darin der Zauber des französischen Advents: in der Verbindung aus Einfachheit und Stil, aus Tradition und Genuss.


Ein Fest der Sinne – und der Seele

Man sagt, die Franzosen verstünden es, das Leben zu feiern. Auch im Advent zeigt sich das: weniger in großen Gesten, mehr in den kleinen Momenten. Ein Glas Rotwein bei Kerzenschein, ein Spaziergang durch das nächtliche Viertel, der Besuch auf einem kleinen Markt, wo Kinder ihre Wunschzettel an den Père Noël abgeben.

In einem Land, das sonst so stolz auf seine Laizität ist, lebt in dieser Zeit eine stille Spiritualität auf – nicht immer kirchlich, aber zutiefst menschlich. Die Sehnsucht nach Licht, nach Nähe, nach einem Moment des Innehaltens.


Und was bedeutet das für die modernen Franzosen?

Vielleicht ist es genau das: eine Gelegenheit, Tempo rauszunehmen. Die Pariserin, die am Samstag zwischen Büro, Markt und Familie hin- und herhetzt, gönnt sich plötzlich eine Stunde Ruhe – mit einem Glas vin chaud und einer Handvoll Freunde.

Oder der Rentner im Elsass, der seine Enkel einlädt, gemeinsam Sablés zu backen. „C’est ça, le vrai Noël“, murmelt er: Das ist das wahre Weihnachten.

Und wer einmal erlebt hat, wie in kleinen Dörfern in der Auvergne oder im Burgund die Dorfgemeinschaft zusammenkommt, um die Lichter am Platz anzuzünden, der weiß: Der französische Advent ist leiser, aber nicht weniger intensiv.


Ein Fest des Lichts in dunkler Zeit

Vielleicht liegt gerade darin der Zauber dieser Wochen: im Spiel zwischen Licht und Dunkel, zwischen Alltag und Erwartung. Die Franzosen feiern nicht nur das bevorstehende Weihnachtsfest – sie feiern die Kunst des Wartens.

Und während in den Fenstern die Kerzen brennen, die Straßen glitzern und aus der Ferne ein Chor „Douce nuit“ anstimmt, spürt man: Es ist diese stille Freude, die alles zusammenhält.

Ein Artikel von M. Legrand

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