Manche Daten tragen das Gewicht ganzer Jahrhunderte. Der 20. November gehört zweifellos dazu. Weltweit verdichteten sich an diesem Tag immer wieder Ereignisse von tiefgreifender Bedeutung – politisch, kulturell, menschlich. Auch in Frankreich hat dieses Datum Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken.
Was also geschah an einem 20. November? Und warum lohnt sich ein Blick zurück?
Der Beginn der Nürnberger Prozesse (1945)
Am 20. November 1945, nur wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, beginnt in Nürnberg der erste Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes. Zum ersten Mal in der Geschichte wird ein internationales Gerichtshof gebildet, um die Verantwortung führender Staatsmänner und Militärs für Krieg, Massenmord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhandeln.
Mit angeklagt: Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop und viele andere. Die Weltöffentlichkeit verfolgt gespannt, wie Justiz auf das beispiellose Grauen antwortet, das Deutschland über Europa gebracht hatte.
Diese Prozesse – sie wurden zur Blaupause für das Völkerrecht. Heute, Jahrzehnte später, steht der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag auf den Schultern von Nürnberg. Die Idee: Kein Täter ist zu mächtig, kein Verbrechen zu alt, um ungesühnt zu bleiben.
Aber funktioniert das in der Praxis? Die Antwort fällt ambivalent aus. Während einige Diktatoren zur Rechenschaft gezogen wurden, bleiben andere unangetastet.
Der Tod Francisco Francos (1975) – Spaniens Diktatur endet
Fast auf den Tag genau 30 Jahre nach Nürnbergs Auftakt stirbt in Spanien Francisco Franco, der faschistische Diktator, der seit dem Spanischen Bürgerkrieg 1939 mit eiserner Hand regierte. Am 20. November 1975 atmet Spanien kollektiv auf – der Caudillo ist tot.
Doch die Erleichterung mischt sich mit Unsicherheit. Was kommt jetzt? Revolution? Restauration?
Der junge König Juan Carlos tritt die Nachfolge an – und überrascht viele. Statt das Franco-Regime fortzuführen, ebnet er gemeinsam mit Reformpolitikern den Weg zur Demokratie. Die spanische „Transición“ wird ein politisches Kunststück: friedlich, mutig und richtungsweisend.
Dass Spanien heute eine parlamentarische Monarchie ist, verdankt es zu großen Teilen diesem Balanceakt. Die Schatten der Franco-Diktatur allerdings – sie ziehen sich bis heute durch das kollektive Gedächtnis des Landes. Straßennamen, Denkmäler, Massengräber – die Vergangenheit klopft noch immer an.
Frankreich: Das Ende der OAS (1962)
Am 20. November 1962 wird in Paris ein Kapitel des Algerienkonflikts geschlossen – zumindest offiziell. Die OAS („Organisation de l’armée secrète“), eine rechtsextreme Terrorgruppe aus abtrünnigen französischen Militärs, wird endgültig zerschlagen.
Die OAS hatte nach dem Algerienkrieg 1961/62 versucht, mit Bombenanschlägen und Attentaten den algerischen Unabhängigkeitsprozess zu stoppen – auch auf französischem Boden. Selbst Präsident Charles de Gaulle war Ziel eines Anschlags.
Die Zerschlagung der OAS markiert das Ende eines blutigen Kapitels in der französischen Nachkriegsgeschichte. Aber: Der Algerienkrieg hinterließ eine traumatisierte Gesellschaft – in Frankreich wie in Algerien. Fragen der Kolonialvergangenheit, von Identität und Rassismus sind heute aktueller denn je.
Wer etwa an die Gelbwesten-Proteste denkt oder an Debatten um den Islam in Frankreich, spürt die lange Nachwirkung dieser Geschichte.
Kinderrechte auf dem Papier: Die UN-Kinderrechtskonvention (1989)
Ein weiterer Meilenstein fällt auf den 20. November: 1989 verabschiedet die Generalversammlung der Vereinten Nationen die UN-Kinderrechtskonvention. Ein Dokument mit weltweitem Anspruch, das Kindern nicht mehr nur Schutz, sondern auch Mitsprache und Rechte garantiert.
Nie zuvor hatten sich so viele Staaten auf ein Menschenrechtsdokument geeinigt – bis heute ist es das am weitesten ratifizierte Abkommen der Welt. Und doch: Papier ist geduldig.
Kinderarbeit, Hunger, Gewalt – all das existiert weiterhin, oft mitten in Europa. Die Konvention bleibt ein moralischer Maßstab – und ein Spiegel unseres gesellschaftlichen Versagens, wo sie ignoriert wird.
Ein kultureller Nachklang: Der Tod von Tolstoj (1910)
Nicht nur Politik, auch Kultur hat ihre stillen Revolutionen. Am 20. November 1910 stirbt Lew Tolstoj, einer der größten Schriftsteller der Weltliteratur. Mit Romanen wie „Krieg und Frieden“ oder „Anna Karenina“ schuf er Werke von universeller Tiefe.
Kurz vor seinem Tod floh Tolstoj – im Alter von 82 Jahren – aus seinem eigenen Haus. Er wollte der Reichtumslast seiner Herkunft entkommen, suchte Wahrheit und Einfachheit. Seine letzte Station: ein Bahnhof, irgendwo im Nirgendwo Russlands. Dort starb er.
Sein literarisches Erbe? Unsterblich. Und aktueller denn je – in einer Welt, in der Sinnsuche und Werte oft hinter Konsumrauschen verschwinden.
Ein Schock für Frankreich: Der Brand im Pariser Hôtel de Bourgogne (1838)
Am 20. November 1838 wird Paris von einem verheerenden Feuer erschüttert. Das Hôtel de Bourgogne, einst Heimstatt der großen französischen Theaterkunst, fällt den Flammen zum Opfer. Obwohl das Gebäude seine Glanzzeit hinter sich hatte, traf dieser Brand einen Nerv: die Angst vor dem kulturellen Verlust.
Kunst und Theater – sie waren und sind das Rückgrat der französischen Identität. Heute, wo Theaterhäuser unter finanziellen Druck geraten und Debatten über kulturelle Relevanz toben, erinnert dieses Ereignis an den bleibenden Wert der Bühne als Spiegel der Gesellschaft.
Warum das alles noch zählt
Der 20. November liest sich wie ein Geschichtsbuch auf engstem Raum. Krieg, Frieden, Diktatur, Recht, Kultur, Kinderrechte – all das ballt sich in diesem Datum. Nicht, weil der Kalender es so wollte, sondern weil Geschichte eben in Wellen kommt. In Wellen, die manchmal am selben Strand anlanden.
Und ja – manchmal fragt man sich: Lernen wir daraus? Oder drehen wir uns im Kreis?
Die Antwort bleibt offen. Aber wer genau hinschaut, findet im Gestern nicht nur Mahnung, sondern auch Inspiration.
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