Tag & Nacht


Manchmal genügt ein einziger Geruch, ein Schluck, ein Glitzern in der Luft, damit ein vertrauter Moment wie ein Fest wirkt. Genau so fühlt sich der dritte Donnerstag im November an, wenn in Lyon die ersten Töne der Fanfaren über die Place des Terreaux schweben und der Beaujolais Nouveau erneut die Bühne betritt.

Ein Wein, der jung wirkt, fast ungestüm – und sich doch von Jahr zu Jahr weiterentwickelt wie ein Teenager, der überraschend erwachsen auftritt.

Ein kleines Ritual, das im Herzen Frankreichs verwurzelt ist und sich zugleich ständig neu erfindet.

Und jetzt? Jetzt heißt es wieder: Les tonneaux arrivent.


Die Szene, die sich früh am Abend in Lyon abspielt, könnte aus einem französischen Film stammen, einer Mischung aus Tradition, Stolz und diesem ganz speziellen Südlicht, das sogar kühlen Novembernebel sanft erscheinen lässt. Männer und Frauen in dicken Jacken, Kinder auf den Schultern ihrer Eltern, ein Hauch Kastanienrauch vom nächsten Stand, darüber das leise Glucksen der Fässer, die mit kräftigen Armen vom Boot gerollt werden.

Wie oft hat man das schon gesehen – und trotzdem wirkt es jedes Mal wie frisch erdacht.

Denn Hand aufs Herz: Was wäre Lyon im November ohne den Beaujolais Nouveau? Und was wäre der Beaujolais Nouveau ohne diese rituelle, fast theatralische Ankunft auf dem Wasser?

Vielleicht geht es genau darum: dass die Menschen sich wiederfinden können in einem Moment, der ihnen gehört.


Ein älterer Herr, dessen Schal im Wind flattert, beugt sich zu mir und sagt mit funkelnden Augen:
„Das haben wir als Kinder schon erlebt. Immer dieselbe Freude – und trotzdem fühlt es sich jedes Mal anders an.“

Ein anderer ergänzt, halb lachend, halb nostalgisch:
„Bei uns daheim hieß es: Wenn der Beaujolais kommt, kommt der Winter erst richtig. Und gleichzeitig beginnt die beste Zeit im Jahr.“

Man sieht, wie die Tradition zu atmen scheint, als wäre sie lebendig. Wer einmal in einer Winzergemeinde des Beaujolais aufgewachsen ist, trägt diese Feste wie eine Melodie im Kopf – vertraut, unverwechselbar, ein bisschen schräg und herzenswarm.


In den Dörfern rund um Villefranche und Lachassagne herrscht währenddessen geschäftige Aufregung. Die Winzer richten Lichterketten aus, decken lange Holztische ein, polieren Gläser und kontrollieren ein letztes Mal die Fässer, die heute Nacht zum Mittelpunkt jeder Unterhaltung werden.

Ein Satz fällt an solchen Tagen oft, aber selten so ehrlich wie hier: „Das ist die Belohnung für all die Mühe.“

Marine und Alexandre Rivière vom Weingut Domaine JP Rivière strahlen, während sie zwischen ihren Gästen hindurchlaufen. Sie wirken wach, energiegeladen – und gleichzeitig leicht übernächtigt von den letzten Vorbereitungen.

Über 500 Besucher erwarten sie an diesem Wochenende. Vier Tage Ausnahmezustand. Vier Tage, in denen kaum Zeit für Schlaf, aber viel Zeit für Begegnungen bleibt.


Marine nimmt ein Glas, hebt es gegen das Licht und lässt den Wein kreisen.
„Frische Früchte, Balance, Rundung – ja, diesmal passt das Zusammenspiel richtig gut“, sagt sie und lächelt.

Man hört sofort, dass sie stolz ist. Nicht im Sinne eines großen Triumphs, sondern in diesem stillen, warmen Stolz, den Menschen empfinden, wenn ihre Arbeit gesehen und geschätzt wird.

Was bedeutet das eigentlich, so ein junger Wein? Und warum löst er jedes Jahr aufs Neue eine Art kollektive Begeisterung aus?

Vielleicht, weil er uns erinnert, dass manche Dinge nicht perfekt sein müssen, um Freude zu machen. Ein junger Wein darf frech sein, unbeschwert, ein bisschen verspielt – er muss nicht so tun, als sei er ein tiefgründiger Grand Cru.


Und doch entwickelt sich der Beaujolais Nouveau. Jahr für Jahr merkt man, wie die Winzer andere Wege ausprobieren: selektiver lesen, schonender ausbauen, mutiger sein.

Vor einigen Jahren hätte niemand geglaubt, dass dieser Wein einmal wieder ein Qualitätsversprechen werden könnte. Ich erinnere mich an Diskussionen, in denen man sagte: „Der Beaujolais Nouveau? Das war’s.“

Aber die Zahlen sprechen eine andere Sprache.

Im Jahr 2024 gingen 14 Millionen Flaschen in die Welt hinaus. Überall – von Tokio bis Montréal – feierten die Menschen denselben Moment.

Und dieses Jahr? Die Winzer selbst rechnen damit, dass die Nachfrage weiter steigt. Manche sind sogar schon ausverkauft, bevor die ersten Feiern beginnen.

Na gut, denkt man sich. Wer hätte das erwartet?


Die Menschen lieben Geschichten – und der Beaujolais Nouveau erzählt eine, die uns alle ein Stück weit betrifft.
Sie handelt von Geduld und Leidenschaft, von Regen und Sonne, von der Sorge um die Trauben und der Freude über das, was am Ende daraus entsteht.

Sie handelt davon, dass Gemeinschaft nicht selbstverständlich ist, sondern lebt, wenn man sie pflegt.

Und sind wir ehrlich: Wann kommt man sonst auf die Idee, mitten im November nachts bei Fackelschein durch Dörfer zu ziehen und jungen Wein zu kosten?


Ich habe mich an diesem Abend lange mit einer Frau unterhalten, die ihr Glas fest umklammert hielt, als wäre es eine kleine Schatztruhe.
„Es erinnert mich an meine Großmutter“, sagte sie. „Sie hat jedes Jahr den ersten Nouveau mit uns probiert, immer mit dem gleichen Satz: Der erste Schluck gehört der Familie.“

Warum berühren uns solche Geschichten so sehr? Vielleicht, weil sie zeigen, dass Wein viel mehr ist als ein Getränk. Er verwebt Menschen, Geschichte, Landschaft. Er trägt Erinnerungen von Generationen.


In Lachassagne schwappt währenddessen Lachen aus einer der Hallen, ein Akkordeon setzt ein, jemand ruft nach einem neuen Fass. Ein Duft aus frischem Brot und Tartines liegt in der Luft.

Die Energie – wunderbar ansteckend. Fast möchte man sagen: Wer hier nicht lacht, verpasst etwas.


Doch zwischendurch frage ich mich:
Was macht diesen Wein so besonders, obwohl er so jung ist?
Könnte es sein, dass seine Unreife gerade das ist, was uns begeistert?

Vielleicht, weil er uns daran erinnert, dass Freude oft dann entsteht, wenn man nicht zu lange wartet. Dass man Feste feiern sollte – genau dann, wenn sie fallen.


Ein Mann, der an der Bar lehnt, erzählt eine kleine Anekdote:
„In Japan feiern sie fast noch größer als hier“, sagt er grinsend. „Die trinken den Nouveau schon im Flugzeug, kaum dass er geliefert wird. Stell dir das vor!“

Er schüttelt amüsiert den Kopf.
„Wir machen uns vielleicht zu viele Gedanken. Die Leute wollen einfach Spaß haben.“

Recht hat er. Und irgendwie steckt darin auch die Essenz des Beaujolais: unkompliziert, frei, zugänglich, voller Lebenslust.


So geht der Abend weiter, bis die Fackeln ausgebrannt sind und die letzten Besucher fröhlich nach Hause schlendern.

Ein Windstoß zieht über die Hügel des Beaujolais und mischt sich mit dem Duft nach nassem Stein, Moos und Traubenresten. Ein Gefühl von Wärme bleibt zurück, selbst in der kühlen Nacht.


Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt möglich ist, die Magie dieses Moments zu beschreiben. Doch vielleicht braucht man das gar nicht. Vielleicht genügt es, mitten drin zu stehen und zu merken, dass etwas ganz Einfaches plötzlich groß wirkt.

So wie der Beaujolais Nouveau selbst.


Auch an den kommenden Tage wird in der ganzen Region weiter gefeiert – mit Musik, Gesprächen, langen Tafeln und vielen kleinen Gesten, die zeigen, wie sehr die Menschen diesen Moment lieben.

Und ganz gleich, ob man nun Kenner ist oder einfach jemand, der sich gern überraschen lässt: Der erste Schluck eines frischen Jahrgangs hat etwas Verbindendes.

Ein Hauch Zukunft, ein Hauch Vergangenheit – und dazwischen ein Lächeln.

Ein Artikel von M. Legrand

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