Tag & Nacht


Manchmal genügt ein kleiner Landstrich, um ein ganzes Geschichtsbuch aufzuschlagen – und das Loiret versteht diese Kunst par excellence. Wer hier unterwegs ist, spürt eine eigenartige Mischung aus Gelassenheit und vibrierender Vergangenheit. Als ob jeder Stein, jeder Wasserlauf, jede Handbewegung eines Handwerkers ein kleines Echo durch die Zeit schickt. Genau dort führt unser gemütlicher Sonntagsausflug hin: von der traditionsreichen Faïencerie de Gien bis zum imposanten Château de Sully sur Loire. Ein Weg, auf dem alte Meister, Könige, Visionäre und neugierige Reisende überraschend nah beieinanderstehen.

Ein spannender Auftakt für einen Tag, der – versprochen – nachklingt.

Die Stadt Gien schmiegt sich ans Ufer der Loire, als hätte sie sich schon immer hier ausruhen wollen. Und genau hier, in einem Ensemble aus Werkstätten und lichtdurchfluteten Räumen, entsteht seit über zwei Jahrhunderten die berühmte Fayence von Gien. Schon von außen spürt man, wie viel Stolz und Rhythmus in diesem Ort steckt. Ein leichter Geruch nach Ton, Wasser und Hitze liegt in der Luft, sobald man die Schwelle übertritt – ein Duft, der fast wie ein höfliches „Bonjour, bienvenue“ wirkt.

Innen tummeln sich Besuchergruppen, die teils ehrfürchtig, teils neugierig zwischen den Arbeitsplätzen stehen. Da sitzt Christine Maciel, die mit ruhiger Hand eine frisch getauchte Schale prüft. Sie lächelt, als sie sie anhebt. „Schauen Sie, schon trocken“, sagt sie und ihre Stimme trägt eine Mischung aus Erfahrung und sanfter Freude. Wer hätte gedacht, dass ein so fragiles Stück nach Minuten schon bereitsteht, weiterverarbeitet zu werden?

Und dann ist da diese Besucherin, die beinahe flüstert: „Magnifique … das muss man echt mal gesehen haben.“ Recht hat sie. Manche Dinge lassen sich kaum beschreiben, man muss sie fühlen – und dieses Handwerk gehört genau in diese Kategorie. Jede Keramikform geht hier durch rund 30 Hände, von Menschen, die ihren Beruf leben wie ein altes Lied, das nie langweilig wird.

Man steht daneben, schaut ihnen zu, wie sie die feuchte Masse mit Schwämmen bearbeiten, wie sie in konzentrierter Stille Muster tupfen, Linien ziehen, Farben zähmen. Und plötzlich denkt man: Wie viel Geduld, wie viel Hingabe liegt in so einem Teller? Wie lange braucht ein Mensch, um sein Werkzeug so zu lieben, dass er dessen kleinsten Widerspruch kennt?

Für die filigranen Dekore der Luxusstücke gilt eine goldene Regel: drei Jahre Erfahrung, bevor man überhaupt an solche Feinheiten darf. Drei Jahre – das ist für die meisten längst ein kleiner Lebensabschnitt. Für eine der jungen Emailleurinnen dort jedoch ist es der Beginn einer Berufung. „Auch wenn die Teller für andere gleich aussehen“, sagt sie, „wir erkennen genau, wer welchen gemacht hat.“ Fast klingt es wie ein Geheimcode unter Künstlern. Und ja, es hat etwas Tröstliches: In einer Welt, die so oft alles vereinheitlicht, zeigt jeder Teller die Handschrift eines Menschen.

Einige Besucher zücken ihre Handys, andere lassen sie einfach in der Tasche – es gibt Momente, da taucht man lieber ganz ein.

In Gien könnte man sich tatsächlich verlieren, aber der Tag ruft weiter. Und so folgt man der Loire, die heute träge und selbstbewusst gleitet, als wollte sie uns zu einem neuen Kapitel führen.

Dreissig Kilometer weiter erhebt sich das Château de Sully sur Loire aus dem Flussland wie ein Märchen, das gerade erst begonnen hat. Mit seinen hohen Rundtürmen, dem breiten Wassergraben und dem majestätischen Innenhof wirkt es wie ein Schauplatz aus einer Legende, die man schon als Kind immer wieder hören wollte.

Der Historiker Mathieu Girault führt eine Gruppe durch das Halbdunkel des Ganges, wo hohe Steinwände und schmale Fenster der Fantasie Schub verleihen. Plötzlich bleibt er stehen, zeigt auf eine eiserne, schwer anmutende Tür. Fast wie aus einem Agentenroman – wuchtig, beinahe bedrohlich. „Vielleicht wurden hier wichtige Papiere gelagert“, sagt er, „Briefe des Königs, geheime Dokumente. Der damalige Schlossherr wollte sie gut schützen.“ Und dann klopft er mit den Knöcheln an das Metall. Ein trockener Klang, der noch lange im Ohr bleibt.

Während man weiter durch die Räume geht, entfaltet sich eine erstaunliche Galerie an Geschichten. Louis der Vierzehnte – ja, der Sonnenkönig persönlich – war hier. Voltaire, der mit spitzer Feder und klarem Geist die Welt befragte, ebenfalls. Und Jeanne dArc, deren Lebensweg ohnehin wie ein Blitz durch die Geschichte fährt, hat das Schloss mehrmals betreten. Was machte sie hier? Wen traf sie? Welche Gedanken trug sie durch dieselben Säle, durch die wir heute schlendern?

Es ist ein schönes Gefühl, einem Ort zu begegnen, der die Spuren seiner Besucher nicht zu verstecken versucht. Manche Schlösser wirken wie Theaterkulissen – hübsch, aber leblos. Doch Sully atmet. Ein Paar, das dem Guide lauscht, sagt leise: „Man merkt einfach, dass hier wirklich gelebt wurde.“ Und man nickt innerlich. Genau so ist es.

Die Räume sind eingerichtet, ohne überladen zu wirken, die Atmosphäre vertraut, fast ein wenig melancholisch. Es gibt diese Momente, in denen man plötzlich glaubt, Schritte hinter sich zu hören – und dann lacht man über sich selbst. Aber ganz ehrlich, wer wäre hier nicht empfänglich für ein wenig Fantasie?

Draussen legt sich ein Teppich aus sattem Grün um das Schloss. Natur und Architektur scheinen sich heimlich zuzuflüstern, dass sie einander gut stehen. Der Wind lässt die Bäume rascheln, als würden sie alte Geschichten weitergeben. Und so wirkt dieser Ort wie eine Einladung: Bleibt noch ein wenig, spaziert am Wasser entlang, schaut den Wolken zu. Vielleicht entdeckt ihr etwas, das nicht in den Führern steht.

Das Loiret zeigt sich hier von einer Seite, die man leicht unterschätzt. Zwischen Handwerk, Féerie und Geschichte liegt eine stille Kraft, die nur darauf wartet, dass jemand sie hört. Manche Regionen brüsten sich mit Weltattraktionen – das Loiret hingegen schenkt den Augen und dem Herzen Ruhe und Überraschung zugleich.

Man denkt an die Tonarbeiten in Gien, die talentierten Hände, die konzentrierten Bewegungen, das kleine Funkeln in den Augen der Handwerkerinnen. Und dann an die kühlen Steinflure des Schlosses, an jene Tür aus Eisen, die ein Jahrhundertgeheimnis zu bewachen scheint, an die Stille, die sich in den Innenhof legt, sobald die Stimme des Guides einen Moment verstummt.

Da fragt man sich: Wie viele Geschichten verstecken sich in Regionen, die man auf der Karte schnell übersieht? Und weshalb besuchen wir manchmal die halbe Welt, ohne solche Schätze ganz in der Nähe zu bemerken?

Vielleicht ist genau das der Zauber dieser Reise – eine geduldige Einladung, sich Zeit zu gönnen, genauer hinzuschauen, tiefer zu lauschen. Das Loiret hat eine Stimme. Und sie spricht in Keramikgeräuschen, in Turmwind, in Flussrauschen.

Ein bisschen poetisch, klar. Aber an einem Sonntag darf das sein.

Ein Artikel von M. Legrand

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